Viermillionen Schritte bis zum Ende der Welt
Parkplätze und weite
Wiesen, die jetzt alle mit Zelten, Campingtischen und Klappstühlen belegt sind.
Dazwischen stehen unzählige parkende Maschinen, fachsimpelnde, lederbekleidete
Männer, die das eine oder andere Gerät auf Touren bringen. Wir haben
Schwierigkeiten, uns durch dieses Durcheinander zu schlängeln und die Herberge,
die irgendwo inmitten dieses Chaos stehen soll, zu finden. Wir, mit unseren
schweren Rücksäcken, werden beäugt, als ob wir von einem anderen Stern kämen.
Vielleicht tun wir es auch.
Der runde Neubau ist mit Hunderten von
Bikern, die sich vor dem Regen hierher zurückgezogen haben, übervoll besetzt;
sogar der Fußboden ist mit sitzenden und liegenden Gestalten bedeckt. Hier
sollen wir heute schlafen? Unmöglich! Erst nach einer Viertelstunde finden wir
die etwas entnervte zuständige Dame, die uns beruhigt: Heute abend ist die
Veranstaltung vorbei und alle diese Menschenmassen werden bald die Heimreise
antreten.
Wir gehen in die Küche, in der wir etwa
dreißig junge Männer vorfinden. Sie alle gehören zu einer Gruppe von
Motorrad-Gendarmen, die aus Bordeaux angereist sind. Sie waren zwei Tage hier
und jetzt packen sie für die Heimfahrt. Sie haben wohl zuviel Verpflegung
mitgebracht und jetzt fragen sie uns, ob wir die Reste gebrauchen könnten. Aber
sicher doch! So kommen wir völlig unerwartet zu einem wahren Festmahl: diverse
Wurst- und Käsesorten, selbstgemachte Kuchen und Marmelade, sowie drei Flaschen
St-Emilion ohne Etikett, von der Familie eines der Herren angebaut.
Wir lassen den Nachmittag in den Abend
hinübergleiten. Die Festteilnehmer sind abgereist. Eine unwahrscheinliche Ruhe
breitet sich aus, als ob das Volksfest eben nur geträumt gewesen wäre. Es
kommen später noch andere Pilger, je ein Ehepaar aus Holland, Frankreich und
Italien, sowie eine Dame mit Fahrrad aus Bayern. Eine internationale,
vielsprachige Gesellschaft. Ich müßte besser englisch sprechen.
Meine Sprachschwierigkeiten sind Teil
meiner Biographie. Ich spreche vier Sprachen und das sollte im Normalfall
reichen, aber nicht in meinem Fall. Die vier Sprachen sind nämlich: deutsch,
ungarisch, russisch und polnisch. International ist die eine genau so wenig zu
gebrauchen wie die andere.
Mein Großvater, der lange vor meiner
Geburt verstorben war, kam als deutscher Arbeiter nach Ungarn. Er verbrachte
mehr als die Hälfte seines Lebens in Budapest und wurde dort begraben, trotzdem
weigerte er sich lebenslang, Ungarisch zu lernen. Wenn man ihn fragte, warum,
antwortete er: „Wenn du dich nur zweihundert Kilometer von der ungarischen
Hauptstadt entfernst, dann kannst Du ungarisch sprechen oder bellen wie ein
Hund, für die Verständigung ist das das Gleiche“.
Nein, besonders feinfühlig ist der alte
Herr nicht gewesen, aber in der Sache lag er leider nicht ganz verkehrt.
Montag, am 2. Juni
Von Nogaro nach Aire-sur-l’Adour
Die Stadt Nogaro, an derKreuzung von mittelalterlichen Handelsstraßen gelegen,
hat bessere Tage erlebt: Im 11. Jahrhundert war sie ein bedeutender Marktplatz.
Die Einnahmen aus Marktgebühren und Zoll, wovon nur die Pilger befreit waren,
brachten ihr Reichtum, wovon noch die Reste des romanischen St-Jacques-Spitals
und eines Kreuzganges zeugen.
Ich sehe Plakate hängen, die ein
kommendes Sommerfest mit dem Titel „Taureau
et musique“ ankündigen. „Stier und Musik“, welch eine Assoziation,
welch eine sinnliche Verknüpfung! Ich weiß, daß die südfranzösische Spielart
des Stierkampfes nur eine harmlose Spielerei in Vergleich mit der tiefen,
dunklen, mystischen Dramatik der spanischen Corrida ist, aber auch hier werden die Stiere gehetzt und
gestreßt. Man darf sich nicht wundern, wenn Tierschützer und
Stierkampfbefürworter emotional nie zueinander finden werden.
Wie auf einem Schlag sind die Reben
durch ausgedehnte Maisfelder ersetzt. Die Monokultur setzt sich in der
Landwirtschaft immer mehr durch.
Ich erreiche das Waldgebiet Lande des
Bois. Die Wälder sind Eichenwälder, die Alleebäume sind Eichenbäume und auch
die uralten Baumriesen, die die Bauernhöfe beschatten, sind meistens Eichen,
und das fast überall in Frankreich. Wieso wird bei uns die Eiche als der
deutscheste aller Bäume betrachtet? Wie ich auf meinem Weg beobachten konnte,
ist sie eher der französischste aller Bäume. So gesehen hat das deutsche
Militär in den vergangenen Auseinandersetzungen mit dem französischen
„Erbfeind“ sich mit falschen „Federn“, mit dem falschen Laub
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