Viermillionen Schritte bis zum Ende der Welt
Toten“
Hinter dem Fluß liegt Maslacq. Dort
setze ich mich in die wärmende Sonne, trinke mein Kaffee und schreibe diese
Zeilen in mein Tagebuch. Manchmal, wie beispielsweise gestern, bin ich abends so
müde, daß ich beim Schreiben einschlafe.
Bis zum Ziel habe ich noch zwei tiefe
Täler zu überwinden. Es ist wieder heiß geworden, ich habe heute bestimmt fünf
Liter Wasser getrunken und alles wieder ausgeschwitzt. Dann sind aber auch die
letzten Meter geschafft und ich erblicke die ehemalige Abteikirche von
Sauvelade.
Ich bin da; aber wo ist hier das Dorf?
Und wo ist die Herberge? Ich habe vorher selbst mit dem Bürgermeister
telefoniert und mir eine Unterkunft bestellt. Außer der Kirche und einen
angebautem Schloß sehe ich nur Maisfelder und etwas entfernt einige einzelne
verstreute Häuser. Menschen sind nicht zu sehen.
Ich gehe in die Kirche. Sie ist ein
schöner romanischer Bau aus dem 12. Jahrhundert, wie so viele Kirchen auf
diesem Weg, die in der Blütezeit der Jakobspilgerei entstanden sind. Auf die
alte Pilgertradition weist eine hölzerne Jakobusstatue hin. Der Apostel trägt
goldene Kleider und einen flitzebogenartig krummen Stab.
Einmal um die Kirche und ich betrete
den Hof des Schlosses. Der Eingang ist offen. Das Gebäude wird offensichtlich
restauriert: Sandhaufen, Mörtelkasten, Ziegelsteine, Bauschutt, wohin ich
schaue. Ich kehre zu der Kirche zurück und bin etwas ratlos. Endlich kommt ein
Mann vorbei, der mir das entfernte Haus zeigt, wo der Bürgermeister wohnt. Ich
selbst wäre bestimmt nicht darauf gekommen, den Bürgermeister dort zu suchen.
Der Garten vor dem Haus zeigt
Familienidylle: Eine junge Frau spielt mit ihrem Baby, ein Hund kläfft mich
kurz aus Pflichtbewußtsein an. Ich frage nach dem Bürgermeister.
„Sie sind hier schon richtig, ich bin
es“, sagt die Frau. Ich kann mir in dem Schloß einen Platz suchen, wo zwar
gebaut wird, aber die Arbeit ist momentan unterbrochen. Für drei Mark
Leihgebühr bekomme ich eine Gummimatratze mit Luftpumpe, sowie eine Decke.
„Angenehme Nacht wünsche ich Ihnen“.
Zurück in dem dreihundert Jahre alten
Schloß, treffe ich dort einen jungen Mann an, einen Franzosen, der von Le Puy
kommt und nach St-Jean möchte. Jeder von uns sucht sich ein eigenes Zimmer.
Mein Saal ist etwa 10x10 Meter groß und schon halbwegs restauriert. Ein großer
offener Kamin, mit einem goldbemalten Fresko verziert, bildet die ganze
Einrichtung. Die Stuckdecke zeigt eine besonders prächtige Rosette mit Frucht-
und Blättermotiven, farbenfroh bemalt. Auch die unverputzten Natursteinwände
sind sauber ausgefugt. Nur der Fußboden, ein vergammeltes Parkett, ist dick mit
Schmutz bedeckt. Ich suche mir ein Brett, womit ich den Unrat zur Seite
schiebe, um so für die Matratze einen „sauberen“ Platz zu schaffen.
Dann setze ich mich zu dem Franzosen
auf die Eingangstreppe und esse, wie er, das karge Pilgermahl: Brot, Käse,
Apfel. Mehr zu fragen wäre zu anstrengend. Vor uns liegen weite Maisfelder, in
denen Grillen fiedeln, dahinter die noch immer fernen Berge. Die Ritzen der
Steintreppe sind von ungewöhnlich vertrauensseligen Eidechsen bewohnt. Sie
sitzen, nur eine Spanne weit von unseren Fußspitzen entfernt, und beobachten,
was wir fremde Wesen vor ihrer Haustür so treiben.
Mein Pilgerbruder erzählt, daß er täglich
35 bis 40 Kilometer läuft. Er hat es eilig, da er in vier Tagen schon wieder
arbeiten muß. Zehn Kilo hat er abgenommen, was allein schon für ihn diese Reise
sinnvoll erscheinen lassen würde. Er ist sehr müde und nach dem Essen legt er
sich früh schlafen. Als er von der Treppe aufsteht, merke ich, daß er kaum auf
die Füße kommt und nicht auftreten kann. „Das macht überhaupt nichts“, sagt er,
„das ist jeden Abend so. Morgen früh wird es besser“.
Freitag, am 6. Juni
Von Sauvelade nach Navarrenx
Die Nacht auf der wulstigen Matratze hat mir wenig Schlaf gebracht. Ein Glück, daß
ich mir für heute nicht viel vorgenommen habe. Manchmal sind allerdings auch
fünfzehn Kilometer fünfzehn zuviel. Die kurzen Steigungen strengen mich
außergewöhnlich an, ich schleppe mich mühselig vorwärts, mache viele Pausen.
Als die Sonne höher steigt, steigt die Temperatur mit in unerträgliche Höhe.
Der Name der Stadt Navarrenx wird von „Am Rand von Navarra“ abgeleitet.
Sie wurde als Grenzbefestigung an der Brücke über die Gave d’Oloron erbaut. Der
militärische Charakter der Siedlung ist bis heute sichtbar. Eine
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