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Vierter Stock Herbsthaus (German Edition)

Vierter Stock Herbsthaus (German Edition)

Titel: Vierter Stock Herbsthaus (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Susami
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Frau Diehl sein. Aber wieso legt sie mir das vor die Tür? Was bezweckt sie damit?
    Ich merke, dass meine Hand zittert, als ich die erste Seite aufschlage. Schnell balle ich die Hand zur Faust, bringe meine kleinen Zitterfinger unter Kontrolle. Auf der ersten Seite des Büchleins eine handschriftliche Widmung, hellblaue Tinte auf vergilbtem, fleckigem Papier:
    „Für meine Ella, in Liebe M.“
    Wer ist Ella? Heißt Frau Diehl mit Vornamen Ella? Und wer ist „M“?
    Ich blättere weiter, das Papier ist dick und fühlt sich rau an. Was ich hier vor mir habe ist ein Album voller alter Schwarzweißfotos. Auf den ersten Seiten nichts als Kinderbilder. Zwei gesunde, pausbäckige Kleinkinder, der Kleidung nach zu urteilen Mädchen, eine der beiden offensichtlich etwas älter als die andere. Ich blättere weiter und mit jeder Seite vergehen ein paar Monate. Jetzt steht die Ältere schon auf eigenen Beinen … dann auch die Jüngere. Die Große hat ein Steckenpferd bekommen … die Kleine eine Puppe mit einem Turban … und auf dem nächsten Bild, da tragen die Kinder Puffhosen und sind schwarz geschminkt, „Die kleinen Mohrenkönige“ steht in geschwungener Schreibschrift unter dem zerknitterten Foto. Ich blättere weiter und schon trägt eines der Kinder stolz seinen Schulranzen … nur ein paar Seiten weiter auch das andere, sogar noch ein wenig stolzer. Ich sehe die Mädchen beim Eisessen, gemeinsam auf einem dicken Pony sitzend, weiß geschminkt und mit Harlekinshüten auf den Köpfen. Längst habe ich begriffen, dass ich mir gerade Bilder von Frau Diehl und ihrer Schwester ansehe. Frau Diehl ist das jüngere Mädchen, ihre Schwester ein Jahr älter als sie … zwei muntere, unschuldige Kinder, die augenscheinlich eine behütete und unbeschwerte Kindheit erleben, fast könnte man neidisch werden.
    Ich rechne nach. Wenn Frau Diehl jetzt 92 ist, dann sind diese Fotos in den zwanziger Jahren entstanden, zwischen den beiden Kriegen. Einige der Bilder haben am Rand diese kleinen, regelmäßigen Wellen. Ich kenne das Muster von den Familienfotos, die meine Uroma über dem Wohnzimmersofa hängen hatte, die hatten fast alle diesen Rand.
    Auf einmal fehlen zwei Seiten. Sieht aus, als wären sie herausgerissen worden, man kann noch die gezackten Reste erkennen. Dann die nächste intakte Seite … und darauf ein Bild, das mich erschaudern lässt.
    Ich schiebe das Fotoalbum weg, atme tief durch und sehe mich im taghellen Zimmer um. Als ich mir sicher bin, alleine zu sein, ziehe ich das aufgeschlagene Buch heran und beuge mich über das kleine, vergilbte Schwarzweißfoto. Wieder die beiden Mädchen, die kleinere der beiden schaut frech in die Kamera. Die Größere jedoch sitzt so, dass die rechte Seite ihres Gesichts im Schatten liegt. Wer auch immer dieses Bild gemacht hat, er wollte es so, er wollte, dass man nur die Hälfte des Kindergesichts sieht, nicht einmal Umrisse lassen sich in diesem Dunkel erkennen.
    Was mich aber hat erschaudern lassen, das ist der Gesichtsausdruck des kleinen Mädchens. Alle Lebensfreude, alle Unbeschwertheit scheint aus diesem Gesicht verschwunden zu sein, ernst und auf kindliche Art bösartig schaut Frau Diehls Schwester in die Kamera. Was ist zwischen diesem und dem letzten Foto mit ihr passiert? Was ist mit ihrem Gesicht? Natürlich muss ich an das kleine Mädchen mit den Verbänden denken. War sie das? War das die Schwester der alten Frau, die mir dieses Büchlein hingelegt hat? Angestrengt suche ich nach Ähnlichkeiten … komm schon, Lena, konzentriere dich! In meinem Traum – oder was auch immer das war – habe ich das Gesicht des Mädchens ja nicht richtig gesehen, das war ja völlig eingewickelt, nur ein Auge, ein Stück der Nase und der Mund war noch frei. Ich kann mir also nicht sicher sein, dass …
    Plötzlich eine andere Stimme, stark und laut und ein wenig ärgerlich: Ach komm schon Lena! Jetzt hör mal auf mit deinem Ich-kann-mir-nicht-sicher-sein! Du weißt ganz genau, dass sie es war. Sie hat dich zuerst in ihrem Affenkostüm besucht und dann als kleines Mädchen, kurz nach dem, was auch immer sie (Die Hände!) mit ihr gemacht haben. Natürlich war sie es! Moment … was steht da unter dem Bild? Die Schreibschrift ist fast völlig verblasst, kaum mehr sichtbar. Ich beuge mich über das muffig riechende Papier und mein Entziffern ist eher ein Raten: Ein ha- … Ein halbes J- … Jahr … Ein halbes Jahr ha- … nein, das ist ein n … Ein halbes Jahr na … nach … Ein halbes

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