Vierter Stock Herbsthaus (German Edition)
schief.
Ich hatte erwartet, dass sie mir die Tür öffnet. Ich dachte, sie wäre ... wie blöd sich das auch anhört ... auf meiner Seite. Aber Frau Diehl reagiert nicht auf mein Klopfen. Sie weiß, wann der Pflegedienst kommt und wann ich es bin. Anderen Besuch bekommt sie nicht.
Okay, dann eben nicht. Dann lege ich ihr das Fotoalbum eben vor die Tür.
Zurück in der Wohnung mache ich ein paar Briefe auf (nichts von Bedeutung), schaue meine Mails nach (dito) und koche (halbwegs genießbaren) Kaffee. Am liebsten würde ich mich aufs Sofa legen, einfach die Augen schließen und von diesem kaputten Ort hier verschwinden. Mir fällt eine Textzeile ein, die in vor ein paar Tagen aus einem Song rausgehört habe:
One day my life will be a chocolate shake and late night t.v.
Der Song lief auf einem dieser Uni-Sender, die man übers Internet hören kann. Leider hab' ich mir nicht den Titel gemerkt.
Wahrscheinlich brauche ich einfach Urlaub, ein paar Tage raus hier, irgendwo hin, wo es schön ist und wo ich nachts keine Angst habe. Ich fühle mich so furchtbar müde, mir ist, als wäre die Schwäche des alten Mannes, den ich gerade besucht habe, auf mich übergesprungen, als hätte sie sich in mir eingenistet.
Okay, eine halbe Stunde. Es ist heller Tag, immer wieder bricht die Sonne durch die Wolken. Ich ziehe mir meine Jogginghose an und lege mich auf das Wohnzimmersofa. Zwei Meter über mir krabbeln zwei schwarze Fliegen ihre Kreise, Bögen und Linien an die Decke. Ab ins Schlafzimmer mit euch! Geht sterben! Sonst hole ich den Staubsauger und ... ach, egal. Ich stelle den Wecker meines Smartphones und mache die Augen zu ... eine halbe Stunde nur, nur kurz ausruhen.
Es wird keine halbe Stunde. Nach nicht einmal zehn Minuten schrecke ich mit klopfendem Herzen vom Sofa hoch. Meine Beine zittern, mein Nacken ist verkrampft, in meinem Schädel breitet sich dumpfer, drückender Schmerz aus. Was ist mit mir los? Ich schnappe nach Luft, sauge gewaltsam den Sauerstoff ein. Aber mir ist, als würde in meiner Lunge nur zäher heißer Schleim ankommen. So muss sich ein Ertrinkender fühlen … oder ein Fisch, den man mit Haken im Maul an Land gezerrt hat und den man dort verrecken lässt. Keine Panik, Lena! Bleib ruhig! Versuch, tief und gleichmäßig zu atmen … ein und aus … ein und aus … ein und aus … ein und … aus … jetzt ist es besser, jetzt geht es wieder. War das gerade ein Atemaussetzer? Hab' ich jetzt SAS? Oder war sie das? Habe ich ihre Nähe gespürt und Panik gekriegt? Ist sie neben mir gestanden und hat mir die Nase zugehalten? Nein, sie kommt nachts … sie kommt nachts, wenn man schläft. Aber geschlafen habe ich ja, wieso also sollte sie nicht auch … war das gerade eine Bewegung? Ist da was draußen auf dem Balkon? Ist der Rabe wieder da? Ich stehe vom Sofa auf und gehe nachsehen. Nein, nichts … nur meine scheiß Einbildung. Immer noch drehen die beiden Fliegen an der Decke ihre unvollkommenen Kreise.
Oh Scheiße! Wenn doch endlich Paula nach Hause kommen würde, die blöde Kuh müsste doch längst da sein. Obwohl ich immer noch sauer auf sie bin, wünsche ich mir doch ihre Nähe. Mal sehen, vielleicht schaffen wir es heute ja, über das zu reden, was gestern passiert ist. Jetzt erst einmal Aspirin und Wasser … und dann raus hier. Sowieso bin ich heute mit der Runde durchs Haus dran und vielleicht hilft mir die Bewegung, meine Nervosität los zu werden … ach Scheiße, eigentlich will ich nur raus hier.
Als ich auf dem runden, mit abgestandener aber kalter Luft gefüllten Flur stehe, da geht es mir schon besser. Noch besser geht es mir im kühlen, kahlen Treppenhaus. Wäre doch die ganze Welt so kühl und klar. Und als ich draußen vor dem Haus stehe, vor mir der unebene Parkplatz und hinter mir das große Haus, da ist sogar der Kopfschmerz fast vollständig verschwunden. Nur noch ein dumpfes Drücken über meinem rechten Auge, eine letzte Bastion des ekelhaften Schmerzes, der gerade noch meinen gesamten Schädel beherrschte.
Ich merke, dass ich den Protokollzettel und den Stift vergessen habe. Was soll's, die Kreuze kann ich später machen. Erst um das Haus herum, dann die einzelnen Stockwerke. Alles wie gehabt, alles schon Routine.
Ich mache langsam, will erst zurück in die Wohnung, wenn Paula da ist. Ich mache Umwege, gehe einige Wege zweimal, statte sogar den Insekten im sechsten Stock einen kurzen Besuch ab, schaue mir die Vogelspinnen und Käfer an und ekle mich ein bisschen vor
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