Vierter Stock Herbsthaus (German Edition)
Jahr nach dem Unfall. Okay, ein Unfall also. Das Mädchen hatte einen Unfall. Deshalb die Verbände … und danach war etwas mit ihrem Gesicht.
Ich blättere weiter und sehe den Kindern dabei zu, wie sie zu jungen Frauen heranwachsen. Die beiden machen das, was Mädchen aus gutem Hause in den zwanziger und dreißiger Jahren wohl so gemacht haben. Sie fahren Boot, sie posieren vor einem Cabrio, sie gehen baden und tragen dabei einteilige, nach heutigen Maßstäben lächerlich prüde Badeanzüge.
Auf einem der Bilder – ich muss fast lachen, als ich es sehe – posieren die beiden Mädchen als Köche. Sie haben Suppenkellen in den Händen, tragen übertrieben große Kochmützen und die kleinere der beiden – Frau Diehl – hat sich einen schwarzen Schnurrbart aufgemalt. Dies ist eines der wenigen Fotos, auf denen beide Mädchen glücklich wirken.
Eines haben alle Bilder gemein: Die Größere und Ältere hält den Kopf immer so, dass man nur ihre eine Gesichtshälfte sieht … die gute Seite.
Eigentlich müsste ich ja zur Uni, eigentlich müsste ich mich ja … ach was soll's. Ich blättere weiter.
Wieder sind mehrere Seiten herausgerissen, wieder sind gezackte Reste geblieben. Und dann, dann ist es endlich so weit … dann treffe ich auf meinen alten Bekannten, das große schwarze Tier ist da. Es steht auf einer runden Bühne und deutet eine Verbeugung an. Die Schwester Frau Diehls in ihrem Affenkostüm … und ja, da ist auch Frau Diehl selbst, gleich auf dem nächsten Foto. Sie trägt ein knappes, eng tailliertes Kostümchen, das ganz offensichtlich an einen Zirkusdirektor erinnern soll, dazu hohe, glänzende Stiefel. Sie steht rechts neben dem schwarzen Affen und schaut mit übertrieben strengem Gesichtsausdruck zu ihm hoch. In der Linken hält sie eine Peitsche.
Langsam begreife ich, wie die Nummer funktioniert, die die beiden da aufführen.
Auf dem nächsten Foto hält Frau Diehl – eine erwachsene und verdammt attraktive Frau, keine Jugendliche mehr – einen Reifen in die Luft. Sie will, dass der Affe durch den Reifen springt, doch der weigert sich. Mit verschränkten Armen steht er zwei Meter von ihr entfernt und wendet den Kopf ab. Die nächsten drei Fotos zeigen Frau Diehl, wie sie am Bühnenrand steht und (beleidigt?) eine Zigarette raucht. Hinter ihrem Rücken macht der Affe Faxen, zeigt ihr eine lange Nase, imitiert ihre Körperhaltung und macht ihr Rauchen nach.
Das war also die Nummer der beiden … oder zumindest ein Teil davon. Affe und Mensch, Tier und Dompteur, nur dass das Tier nicht will, was der Dompteur will.
Das war das letzte Foto. Darunter steht etwas, ein kurzer Text. Aber die Tintenstriche sind so verblasst, dass ich sie beim besten Willen nicht entziffern kann. Ich klappe das Büchlein zu, sehe aus dem Fenster und denke nach. Ein Unfall also. Aber was genau ist diesem Mädchen passiert? Ich weiß nicht, was größer ist, mein Mitleid mit ihr … oder meine Angst vor ihr.
***
Vielleicht geht es jetzt dem Ende zu. Schritt für Schritt klärt sich alles auf. Ich bin zu Strauss gefahren, habe mich an sein Krankenbett gesetzt und mit ihm das Fotoalbum angeschaut. Auch wenn der Körper dieses Mannes langsam verschwindet, sein Geist ist wach und seine Stimme kräftig. Selbst die Laune des Sterbenden – ich hätte nicht gedacht, dass es so schnell geht, dass er so schnell weniger wird – ist erstaunlich gut. Vielleicht schafft Strauss es nun endlich, an seine so heiß ersehnte Weiterexistenz nach dem Tod zu glauben, wo doch auch die Schwester von Frau Diehl – in welcher Form auch immer – weiterexistiert … nicht nur weiter-existiert, sogar aktiv ist, die Lebenden heimsucht. Strauss und ich sind uns einig, dass immer sie es ist. Sie ist das kleine Mädchen mit den Verbänden, sie ist das schwarze Tier, sie ist die alte Frau, die sich über das Kind gebeugt hat. Und sie ist auch das Wesen, von dem Herr Schlechter sprach. Wie sagte er doch gleich in diesem Video: „Es bringt mich um, dass ich ihm nicht wieder begegnen werde. Aber ich weiß auch, dass dieses Wesen mein Untergang sein wird, falls ich zu ihm zurückkehre.“ Dieser Satz ist mir in Erinnerung geblieben, auch Strauss weiß ihn noch auswendig.
„Aber was wir immer noch nicht wissen, Frau Pander: Warum ist diese tote Person noch in dieser Wohnung? Und was will sie von den Leuten, mit denen sie in Kontakt tritt?“
Strauss greift sich ans Kinn, zieht die Haut straff. Ob er sich der Tatsache bewusst ist, dass
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