Vierter Stock Herbsthaus (German Edition)
sein Kopf immer mehr wie ein Totenschädel aussieht?
„Vielleicht ist ihr nur langweilig“, antworte ich. Ein blöder, halbherziger Witz. Aber Strauss schaut mich nur ernst an.
„Ja, vielleicht. Vielleicht ist sie alleine und sucht die Nähe zu den Menschen. Ihnen ist sie ja zuerst als Affe erschienen, oder?“
„Ja … erst als Affe und später dann als kleines Mädchen. Allerdings weiß ich nicht, ob das mit dem Mädchen nicht doch ein Traum war.“
„Wie dem auch sei, lassen Sie uns einfach mal spekulieren. Jetzt stellen Sie sich einen Menschen vor, der als Kind verunstaltet wurde und sich seines Aussehens schämt. Und dann legt er sich eine zweite Haut zu, die seine Hässlichkeit verdeckt … das Affenkostüm. In dem Kostüm fühlt sich dieser Mensch sicher, so traut er sich, auf andere zuzugehen, in dieser Gestalt bekommt er sogar Applaus. Vielleicht taucht die Frau nur deshalb in dem Kostüm auf, weil sie sich ihrer wahren Gestalt ihr Leben lang geschämt hat und weil sie sich als Affe sicher fühlt. Auch anderen ist ja zuerst diese Affengestalt erschienen.“
„Auf den Fotos ist sie aber auch ohne Kostüm“, wende ich ein. „Und viele Fotos sind ja draußen entstanden, sie hat sich also nicht zu Hause versteckt.“
Strauss nimmt den Bildband von dem kleinen Tisch, der neben seinem Bett steht. Ich sehe, dass sein Unterarm mit Hämatomen übersät ist.
„Ja, das stimmt. Aber sie hat immer darauf geachtet, dass auf den Fotos nur ihre eine Gesichtshälfte zu sehen ist. Und schauen Sie sich mal ihre Frisur als Jugendliche an. Ich glaube, sie konnte die Haare so legen, dass ihr Gesicht zumindest teilweise verdeckt war.“
Strauss blättert in dem Album, hält es mir dann aufgeschlagen entgegen. Okay, das mit der Frisur kann stimmen, das sieht wirklich so aus.
„Mir kam dieser Affe jedenfalls nicht ängstlich vor, als er bei mir im Schlafzimmer stand … eher hm … bösartig, bedrohlich.“
Sofort kommt Strauss' Antwort.
„Das schließt sich doch nicht aus, Frau Pander! Angst und Bösartigkeit schließen sich nicht aus! Vielleicht ist sie bösartig, vielleicht nur verbittert. Auch ihre Schwester ist ja vor ihr geflohen, die hat ja das Schlafzimmer wegen ihr verlassen.“
„Aber was will sie?“, frage ich Strauss.
„Vielleicht will sie einfach nicht verschwinden.“ Er schüttelt den Kopf. „Vielleicht will sie einfach weiterexistieren, weiter bei den Lebenden bleiben.“
Wir schauen uns an, ich und der Todgeweihte. Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Nach einigen Sekunden fällt mir etwas ein.
„Wieso ist sie überhaupt noch da? Bestimmt wollen viele nicht verschwinden … aber wieso ist ausgerechnet sie noch da?“
Schweigen. Strauss klappt das grüne Büchlein zu und legt es zurück auf den Tisch neben seinem Krankenbett.
„Vielleicht sind ja alle anderen auch noch da … nur dass man von denen nichts mitbekommt. Vielleicht sind wir zu jeder Sekunde unseres Lebens von den Toten umgeben.“
Wieder weiß ich nicht, was ich ihm antworten soll. Strauss bemerkt meine Ratlosigkeit, lächelt mich an.
„Sie haben doch erwähnt, dass diese Wohnung, von der alles auszugehen scheint, auf eine seltsame Art verkommen wirkt. Könnten Sie vielleicht ein paar Fotos in der Wohnung machen, ich würde mir diese Verkommenheit gerne ansehen.“
„Ja … natürlich.“
„Und würden Sie bitte noch ein wenig Zeit in dieser Wohnung verbringen? Würden Sie das tun? Vielleicht eine Stunde oder zwei.“
Ich nicke.
„Danke, Frau Pander … jetzt kommt wieder die Müdigkeit. Wissen Sie, es ist komisch. Ich bin nicht müder als früher, sie kommt nur viel überraschender, die Müdigkeit.“
„Ich weiß nicht ganz, was Sie meinen“, antworte ich.
Strauss lächelt mich an.
„Ist auch egal. Ich werde jetzt ein wenig die Augen schließen und meine Kräfte zusammenkratzen.“
Okay, Kräfte zusammenkratzen. Ich stemme mich aus dem großen Lehnstuhl, den Strauss' Tochter neben das Bett geschoben hat. Wir sind im Arbeitszimmer, umgeben von tausend Büchern, abstrakter Kunst und afrikanischen Masken. Will er unbedingt in seinem Arbeitszimmer sterben? Ich mache einen Schritt zum Bett und drücke die dürre, fleckige Hand, die mir Strauss entgegenstreckt. Sie ist warm und der Händedruck ist kräftig. Das Blut fließt noch, Sehnen, Gelenke, Muskeln und Knochen, alles noch da.
„Ich melde mich dann morgen wieder.“
Strauss schließt die Augen und ich verlasse das Zimmer. Eine der Masken hängt
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