Vierter Stock Herbsthaus (German Edition)
furchtbare Angst vor dem Tod hat … oder wie er es formuliert: Vor der Nicht-Existenz, vor der Auslöschung. Strauss will nicht nicht sein, die Aussicht auf eine wie auch immer geartete Weiterexistenz tröstet ihn. Wenn die Schwester von Frau Diehl noch da ist, so scheint Strauss zu meinen, dann wird auch er nicht völlig verschwinden. Er sagt es nicht genau so, aber so verstehe ich ihn.
Als Strauss' Tochter wieder ins Zimmer kommt, da ist alles gesagt. Wir verabschieden uns, ich verlasse das Krankenhaus und gehe mit meinem Scheck zur nächsten Sparkasse. Noch nie hatte ich so viel Geld auf dem Konto. In Gedanken rechne ich mir aus, wie viele Monate ich von diesem Geld leben könnte, ohne zu arbeiten.
***
Zwei Tage und zwei Nächte sind vergangen – ohne irgendwelche Zwischenfälle. Ich war zweimal drüben in der leeren Wohnung und einmal unten im Keller. Nichts Neues, keine neuen Erkenntnisse, keine Erscheinungen. Trotzdem habe ich Angst, sie steckt mir in den Knochen und pappt mir auf der Haut, jeder Schatten vermag mich zu erschrecken. Heute Morgen, gleich nach dem Aufstehen, meinte ich für den Bruchteil einer Sekunde, eine sich zusammenkauernde Gestalt oben auf dem Küchenschrank zu sehen. Aber das war nur ein Schatten, ein dunkler, unbewegter Fleck … da war nichts. Jeden Tag rufe ich Strauss an, auch wenn ich ihm eigentlich nichts zu erzählen habe.
Gestern hatten Paula und ich einen wirklich heftigen Streit. Ich dachte, sie geht gleich auf mich los. Diese beschissene Sache lief folgendermaßen ab:
Kurz vor zwölf sitzen wir am Küchentisch und schnippeln Gemüse. Da höre ich ein Geräusch aus Richtung des Balkons, drehe den Kopf und sehe den großen, schwarzen Vogel.
„Pssst … schau mal“, sage ich zu Paula. Sie schaut nur ganz kurz auf und schnippelt weiter. Demonstratives Desinteresse.
Der Rabe sitzt auf dem Geländer und schaut mich an. Wieder legt er den Kopf schief, ganz eindeutig will er etwas.
„Paula, schau doch … wie ein Hund, der bettelt.“
„Lass mich mit dem Vieh in Ruhe“, kommt es von der anderen Seite des Gemüsehaufens. Okay, dann eben nicht. Sowieso kommt der Rabe wegen mir, im Gegensatz zu Paula hab' ich ihm ja was gegeben. Der große schwarze Vogel macht ein paar Schritte auf dem Geländer, kommt näher heran zu mir, schaut direkt in meine Richtung. Also stehe ich auf und gehe zum Kühlschrank.
„Willst du dem Vieh etwa was geben?“, fragt mich Paula.
„Klar, wieso denn nicht?“
Schon habe ich eine Scheibe Lyoner in der Hand. Paula sagt nichts, stöhnt nur einen ihrer Lass-mich-in-Ruhe-Stöhner. Mit vorsichtigen kleinen Schritten gehe ich zur Balkontüre, ich öffne sie und spüre die feuchte Kühle.
„Pssst … Paula, schau mal.“
Keine Antwort.
Ganz langsam gehe ich in die Knie und strecke dem Raben die Wurstscheibe hin. Wollen doch mal sehen, ob er mir die aus der Hand nimmt. Einige Sekunden beobachtet er mich nur, dann flattert er vom Geländer, landet ganz am anderen Ende des Balkons. Na? Traust du dich, großer Vogel? Darf ich dir einen Namen geben, wenn du mir aus der Hand frisst? Vielleicht Krabat?
Ganz langsam, mit angelegten Flügeln und gestrecktem Hals, kommt der Rabe auf mich zu. Scheiße, hat der 'nen großen Schnabel, könnte mir glatt zwei Finger abbeißen. Als er noch etwa dreißig Zentimeter von mir entfernt ist, da bleibt er stehen und schaut erst nach links und dann nach rechts. Fast muss ich lachen, das sieht aus, als wolle er eine Straße überqueren.
Plötzlich macht der Rabe einen Hopser und zupft mir die Wurstscheibe aus der Hand. Rückwärts watschelt er mit seiner Beute davon, lässt sie runter hängen … und dann, ich kann immer noch nicht begreifen, wie sie das tun konnte, dann kommt etwas geflogen, direkt auf den Raben zu. Es ist eines unserer Küchenbretter, das Brett, auf dem Paula gerade die Zwiebeln geschnitten hat. Es trifft den Raben mit der Kante am Hals und wirft ihn um. Krächzen und Flügelschlagen, das Tier ist in Panik, schlittert über den Balkon, lässt die Wurstscheibe los, versucht sich zu retten, schafft es schreiend und flatternd auf das Geländer hinauf, lässt sich vom Geländer fallen … und ist weg. Ich drehe mich zu Paula um, sie steht hinter mir und grinst. Ich kann es einfach nicht fassen … ich kann es erst nicht fassen und dann schreie ich los. Als ob plötzlich eine Sicherung durchknallt.
„BIST DU DENN VÖLLIG BESCHEUERT?“
„Ich hab' dir gesagt, dass ich das Vieh hier nicht haben
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