Vierter Stock Herbsthaus (German Edition)
stelle ich die Füße auf den Boden, sofort halte ich still. Nicht dass der alte Stuhl – wieso verdammt steht der überhaupt noch hier drin? – unter mir zusammenbricht.
Ich lasse ein paar Minuten vergehen, gewöhne mich an den muffigen Geruch … aber jetzt stört mich diese klebrige, zähe Stille. Es ist schier unglaublich, wie ruhig es hier ist. Vom Flur aus hört man Frau Diehls Fernseher, warum nicht auch hier? Stehst du hinter mir, totes Mädchen? Stehst du hinter dem Stuhl und schaust mich an?
Ich schlucke Speichel, spanne meine Muskeln, hebe mich aus dem Schaukelstuhl und öffne das Fenster … einfach damit die Geräusche der Welt herein können. Ich will Vogelgezwitscher und Blätterrauschen, ich will das Geräusch, das große Lastwagen machen, wenn sie beschleunigen.
Als ich den Fenstergriff loslasse, da fällt mir etwas auf. Rechts neben dem Fenster ist ein langer Riss in der alten Tapete, der einige Zentimeter aufklafft. Und in diesem Riss ist etwas, irgendein … ich kann nicht erkennen, was es ist, etwas Faseriges, Knotiges. Mit dem Zeigefinger mache ich den Riss größer (Stehst du hinter mir? Schaust du mir zu?), die Tapete fühlt sich gleichzeitig schmierig und vertrocknet an … als läge ein hauchdünner Film auf dem Papier, als hätte man die Bahnen in eine ölige, fettige Brühe getaucht und dann trocknen lassen.
Gut, das reicht. Mit Daumen und Zeigefinger greife ich in den vergrößerten Riss und kriege etwas zu fassen, ziehe es heraus und … Oh Scheiße! Angewidert lasse ich den verfilzten Klumpen los, er segelt zu Boden und bleibt direkt vor meinen Fußspitzen liegen. Das ist Haar, verfilztes, von einer weißlich-grauen Masse verklebtes Haar. Ist das von einem Menschen? Ist das … ist das ihr Haar?
Noch einmal stecke ich Daumen und Zeigefinger in den Riss, ich will sehen, ob da noch mehr ist, erwische aber nichts. Also bücke ich mich zu dem verklebten Büschel, hebe es auf und betrachte es. Eindeutig menschliches Haar, ein plattes Gebilde aus menschlichem Haar. Irgendjemand hat es an die Wand geklebt und dann darüber tapeziert, der Kleister hält die etwa dreißig Haare zusammen. Die meisten sind grau, einige dunkelbraun, andere irgendwo dazwischen. Sie kommen mir sehr dünn vor. Das Ding riecht wie die ganze Wohnung: muffig-säuerlich … oder ist das dein Geruch? Riechst du so? Und wird der Geruch umso stärker, je näher du mir kommst?
Ich strecke den Kopf zum Fenster raus – nein, ich werde mich nicht zum Zimmer umdrehen – und ziehe kalte Luft ein. Soll ich das Gebilde mitnehmen? Soll ich es Strauß zeigen und ihn nach seiner Meinung dazu fragen? Als ich so dastehe und hin und her überlege, höre ich den Aufzug … eindeutig der Aufzug. Scheiße, ich hab denen vom Pflegedienst doch gesagt, dass sie das Ding nicht … aber eigentlich ist es noch zu früh, die kommen doch immer erst … vielleicht wegen dem kaputten Fuß, vielleicht muss der … ach Mist, ich werde nachsehen.
Kurz überlege ich, das platte Haarbüschel einzustecken … dann nehmen meine Gedanken eine Abzweigung und ich bin kurz davor, das ekelhafte Ding aus dem Fenster zu werfen. Mal sehen, ob es auf dem Parkplatz landet. Vielleicht schafft es der Klumpen auch bis zum ungemähten, von Unkraut durchsetzten Rasen – die Chancen müssen so 70:30 für den Parkplatz stehen. Wieder das mahlende Geräusch des Aufzugs, alte Stahlseile auf alten Rollen. Jetzt fährt die Kabine nach oben. Ich stopfe das Haargebilde in den Tapetenschlitz, wische mir die Hände an meiner Jeans ab, drehe meine Körpervorderseite dem leeren Raum zu (Hallo Schaukelstuhl!) und verlasse die Wohnung.
Nein, es ist keiner vom Pflegedienst. Der Aufzug kommt hoch und mit ihm Paulas Kopf, Paulas Schultern, ihre Brust, ihr Bauch und der Rest von ihr. Wirklich sicher bin ich mir erst, als sich quietschend das Metallgitter öffnet.
„Hi Lena. Sag bloß, du stehst hier herum und wartest auf mich.“
„Nein, ich hab' gerade die Runde durchs Haus gemacht. Sag mal, wieso benutzt du wieder diesen Aufzug?“
„Weil es schneller geht.“
„Ich hab' dich doch gebeten, dass du die Treppen nimmst. Ich traue dem Ding nicht.“
Sie grinst mich an. Sie steht im roten Maul dieses Dings, das seit Jahren nicht mehr gewartet wurde, und grinst mich an.
„Also bisher hat er mir nichts getan, dein Aufzug.“
Verdammt, was soll das? Sucht sie Streit? Heiß kommt mir die Wut hoch. Jetzt bloß nicht laut werden.
„Das ist nicht mein Aufzug. Und der Herr
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