Vierter Stock Herbsthaus (German Edition)
zehn Jahre als Pfleger und war schon mehrmals in solch kritische Situationen involviert. Für Sie allerdings war es gewissermaßen das erste Mal.”
„Also es geht mir wirklich gut, ich denke da eigentlich auch nicht mehr oft dran.”
Strauss lehnt sich in seinem Stuhl zurück, reibt sich das Kinn und schaut mir in die Augen. Ich weiß nicht, wie ich seinen Gesichtsausdruck deuten soll. Glaubt er mir nicht? Denkt er, ich habe irgendwelche psychischen Probleme und will es nur nicht zugeben? Mache ich einen labilen Eindruck?
„Gut, Frau Pander. Aber Sie müssen mir versprechen, dass Sie sich sofort bei mir melden, falls Sie sich unwohl fühlen, falls Sie Alpträume oder Angstzustände haben … oder sonst irgendwelche Veränderungen bemerken. Ich fühle mich verantwortlich für die Situation, in die Sie geraten sind. Sie wissen ja, dass Herr Schlechter mein Patient war. Wir suchen übrigens momentan nach einem Platz im betreuten Wohnen für ihn. Es geht ihm den Umständen entsprechend gut.”
Ich verspreche Herrn Strauss, dass ich mich gegebenenfalls bei ihm melden werde, und komme mir dabei vor wie im falschen Film. Was soll das alles? Was denn für Veränderungen? Fast habe ich den Eindruck, der wartet nur darauf, dass ich irgendwelche Probleme bekomme. Nichts wie raus hier.
Zurück im Stationszimmer treffe ich auf Schwester Anne. Sie beugt ihre 1,80 über irgendwelche Unterlagen. Ich habe sie länger nicht gesehen, sie war im Urlaub.
„Hallo Schwester Anne. Ich wollte mich noch dafür bedanken, dass Sie mir den Tipp mit der Wohnung gegeben haben. Das hat übrigens geklappt.”
Sie schaut mich an, als hätte ich gerade Mandarin mit ihr gesprochen.
„Sie haben mir doch den Zettel mit der Telefonnummer von Herrn Egner gegeben. Wir sind vor zehn Tagen eingezogen.”
Immer noch Chinesisch? Nein, da tut sich etwas in dem großen Gesicht. Der Groschen wandert, macht eine Kurve, dann noch eine, gerät auf Abwege, findet wieder seinen Weg … und dann fällt er. Der Ausdruck völliger Ratlosigkeit ist aus Schwester Annes Gesicht verschwunden und Zufriedenheit macht sich breit. Sie weiß jetzt, wovon ich rede.
„Ach so, die Wohnung. Das freut mich, dass Sie da fündig geworden sind. Gefällt es Ihnen denn?”
„Ja, wir haben viel mehr Platz als vorher. Und das Gebäude ist auch sehr interessant. Waren Sie mal dort?”
„Nein nein, ich kenn' das überhaupt nicht. Na ich mach dann mal weiter, bin ein bisschen unter Zeitdruck. Haben Sie mal auf den Plan geschaut? Wissen Sie, wer heute Nachtdienst hat?”
„Ich glaube, der Alex.”
„Ach so, ja.”
Ich bin schon fast wieder aus dem Zimmer heraus, da fällt mir noch etwas ein.
„Wie war eigentlich Ihr Urlaub?”
Ein Strahlen erscheint auf Schwester Annes Gesicht, die Sonne geht auf. Und dann erzählt sie mir lang und breit und hoch und tief von ihrem Urlaub. Eine Woche Island: traumhaft, traumhaft, traumhaft. So drückend ist der Zeitdruck nun auch wieder nicht. Sie zeigt mir sogar Fotos auf ihrem Smartphone: Geysire beim Ausbruch, stämmige, langmähnige Pferde, sattgrüne Wiesen und pummelige, steinerne Kirchen. Die Aufnahmen sind gut, man merkt, dass sich jemand etwas beim Fotografieren gedacht hat. Ich frage Schwester Anne, ob sie die Bilder gemacht hat.
„Nein nein, das war mein Manfred. Der will immer die Fotos machen. Ich könnte das wahrscheinlich genauso gut, aber ich lasse ihm halt seine Freude.”
Sie drückt die Tastensperre und steckt ihr klobiges Smartphone weg. Ein großes Telefon für eine große Frau.
„So, ich muss jetzt wirklich mal weitermachen. Hilft ja nichts.”
***
Es ist Samstagvormittag und meine Zeit im Schlaflabor ist seit exakt zwölf Stunden und 16 Minuten vorbei. Bald fangen meine Vorlesungen wieder an, eigentlich müsste ich mich vorbereiten.
Paula ist beim Sport, ich esse ein Honigbrötchen und lese dabei eine Frauenzeitschrift, die mir vor einigen Tagen beim Einkaufen als Gratisexemplar in die Hand gedrückt wurde. Ab und zu finde ich solchen Kram ganz entspannend. In der Mitte des Hefts klebt eine flache Plastikpackung mit der Probe einer Gesichtscreme. Als ich mein Brötchen gegessen habe, löse ich vorsichtig die Packung heraus, öffne sie und schmiere mir Stirn, Wangen und Kinn ein. Riecht nach Pfirsich und Vanille, eigentlich ganz angenehm. Die noch halbvolle Packung lasse ich auf dem Küchentisch liegen, das Geschirr räume ich in die Spüle und lasse Wasser drüberlaufen. Paula hasst mich dafür,
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