Vierter Stock Herbsthaus (German Edition)
sind wir nicht einmal Zwillinge, meine Schwester ist ein Jahr älter als ich.”
„Das ist eine sehr schöne Aufnahme.”
„Wir waren auch sehr schön damals. Was denken sie, wie die Männer hinter uns her waren.”
Ich überlege, welche der beiden Frauen mir gerade um siebzig Jahre gealtert gegenüber sitzt. Ich tippe auf die Herrische, die Selbstsichere. Die Glasscheibe vor der Fotografie hat einen großen, das Bild von links unten nach rechts oben durchquerenden Sprung. Der einen Frau durchschneidet der Sprung die Beine, der anderen den schlanken Hals und einen Teil der rechten Schulter. Rechts oben hat der große Sprung viele kleine Abzweigungen. Die Stelle sieht aus wie die Luftaufnahme eines Flussdeltas.
„Ich bin das Mädchen rechts”, bestätigt Frau Diehl meine Vermutung. „Meine Schwester ist etwas größer als ich. Sie war schon bei ihrer Geburt ein sehr großes Kind, es gab Komplikationen.”
„Oh.”
„Man sagt, ich sei die Schönere gewesen. Kleinere Frauen sind oft schöner, das hängt mit den Proportionen zusammen, mit der Verteilung.”
Was soll ich darauf antworten? Für mich sehen die beiden Frauen ziemlich gleich aus. Ich bemerke, dass sich meine rechte Hand in meine Hosentasche geschoben hat. Sie tastet am Schlüsselbund nach unserem Wohnungsschlüssel. Er ist kleiner als die anderen.
„Ich muss dann langsam los. Vielen Dank für den Kuchen. Ich muss heute Nachmittag arbeiten.”
„Wo arbeiten Sie denn?”
„Im Krankenhaus.”
„Sind Sie Ärztin?”
„Nein, noch nicht. Ich studiere Medizin.”
„Aha”, sagt Frau Diehl. Sie sieht mich direkt an mit ihren kleinen, alten Augen. Ich habe das Gefühl, dass etwas nicht stimmt, dass irgendetwas unausgesprochen geblieben ist. Ich stehe auf und gehe zu Frau Diehl. Sie greift nach meiner Hand und ihr Händedruck ist erstaunlich fest. Als ihre schmalen, knochigen Finger zudrücken, da denke ich an eine Roboterhand, eine von Drähten und Scharnieren zusammengehaltene Metallkralle … zur Tarnung mit dünnem, fleckigem Pergament überzogen.
Wir verabschieden uns und ich gehe Richtung Wohnungstür. Mir ist aufgefallen, dass im Wohnzimmer, gleich neben der Balkontüre, ein schmales Bett und ein kleiner Nachtschrank mit Leselampe stehen. Hat diese Wohnung kein Schlafzimmer?
***
„Sag bloß, du hast dich mit 'ner 92jährigen gestritten?”
Es ist kurz vor 23 Uhr und meine Schicht ist vorbei. Paula und ich sitzen auf der Wohnzimmercouch, essen leicht labberige Salzstangen und sehen uns eine Folge der Sopranos an. Eigentlich schauen wir gar nicht richtig hin. Ich bin mir nicht einmal sicher, ob wir diese Folge nicht schon gesehen haben.
„Quatsch, wir haben uns nicht gestritten. Es war nur irgendwie so eine komische Atmosphäre … so eine Spannung in der Luft. Ach, keine Ahnung. Vielleicht mag die mich einfach nicht.”
Paula nimmt einen Schluck aus ihrer Dr. Pepper-Dose. Seit sie vor ein paar Jahren in den Staaten war, kauft sie sich ab und zu dieses pappsüße Zeug.
„Wie kann man dich denn nicht mögen.”
„Verarschen kann ich mich selbst”, antworte ich.
„Nur am Arsch lecken nicht”, fügt Paula hinzu.
„Hä?”
„Das hat mein alter Biolehrer immer gesagt: Verarschen kann ich mich selbst, nur am Arsch lecken nicht.”
„Ach so … wie auch immer. Jedenfalls hatte ich ein ganz komisches Gefühl bei der, als ob es mit der noch irgendwelchen Ärger gibt.”
Paula schüttelt sich den letzten Rest der Dr. Pepper-Brühe in den weit geöffneten Mund. Ich mag schon den Geruch nicht.
„Was soll es mit der denn für Ärger geben? Die ist 92, die schafft es wahrscheinlich nicht mal bis rüber zu unserer Wohnung. Und wenn sie mit dem Besenstiel gegen die Wand haut, dann hören wir das wahrscheinlich überhaupt nicht, ist ja noch 'ne Wohnung dazwischen.”
„Ich sag ja nur dass ich irgendwie ein komisches Gefühl bei der Frau hatte. Als ob etwas nicht stimmt, als ob man in ein Zimmer kommt und merkt, dass irgendwas anders ist. Man kann aber nicht genau sagen, was es ist.”
Auf einmal kommt mir das, was ich gerade gesagt habe, unheimlich bekannt vor. Habe ich das früher schon einmal gesagt? Oder schon einmal gehört? Ach ja, ich erinnere mich. Das war an dem Abend, als sich dieser alte Mann … dieser Herr Schlechter, als der sich das Messer in den Bauch rammte. Auch Alex meinte ja, dass er bei dem Mann ein ganz komisches Gefühlt gehabt habe … und er drückte das so ähnlich aus wie ich gerade. Vielleicht
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