Vierter Stock Herbsthaus (German Edition)
einfach nicht locker.
„Die sind wahrscheinlich überhaupt nicht da.”
„Gehst du mit oder soll ich alleine gehen?”
„Du willst doch wohl nicht jetzt da runter rennen?”
„Doch, will ich. Und jetzt heb' gefälligst deinen kleinen Arsch und komm mit.”
Fünfzehn Minuten später sind wir wieder oben. Paula hat das wirklich gut gemacht, das muss ich ihr lassen. Sie hat sich vorgestellt, sie hat dem Typen und dem Mädchen erklärt, dass wir ihnen keinen Ärger machen wollen, dass wir aber auch selbst keinen Ärger haben möchten. Und nach einigem Hin und Her hat die Kleine ihren Ausweis vorgezeigt. Sie ist tatsächlich volljährig, vor knapp zwei Wochen 18 geworden. Ich habe sie gefragt, wieso sie mich angelogen hat, wieso sie mir erzählt hat, dass sie 19 ist. Sie wusste selbst nicht warum. Vielleicht gewöhnt man sich ans Lügen, wenn man unter solchen Umständen lebt.
„War doch gar keine große Sache, oder?”
„Nein, war es nicht”, gebe ich Paula Recht. Mit nutellaverschmiertem Mund grinst sie mich an und ich muss lachen, sie sieht einfach zu süß aus. Eine halbe Stunde später ist sie aus dem Haus, ich bin alleine … und schon klingelt das Telefon.
„Hallo Frau Pander. Bitte entschuldigen Sie, dass ich so früh störe.”
Es ist Strauss. Er hört sich irgendwie merkwürdig an, irgendwie anders als sonst.
„Kein Problem. Ich bin schon auf den Beinen.”
„Gut … ähm, ich rufe an, weil mir ein paar Dinge ähm auf der Seele liegen. Zum einen hoffe ich, dass dieses Geld, das ich Ihnen gegeben habe, dass dieses Geld unserer Beziehung nicht in welcher Form auch immer geschadet hat. Ich dachte nur, Sie könnten als Studentin dieses Geld gut gebrauchen und … ähm … nun ja, ich werde bald überhaupt kein Geld mehr brauchen. Wie man so sagt: Das letzte Hemd hat keine Taschen.”
Strauss macht eine Pause und ich weiß nicht, was ich ihm drauf antworten soll. Dafür aber weiß ich, wie sich Strauss anhört. Er hört sich besoffen an.
„Wissen Sie, wenn man alt ist und das Leben, das man gelebt hat, nicht allzu beschissen war, dann denken alle, dass man bereit ist, den Tod zu akzeptieren. Aber um ehrlich zu sein, ich bin überhaupt nicht bereit dazu. Ich hasse es, sterben zu müssen, eine absolut brutale Sauerei ist das, am liebsten würde ich mich weigern. Und wie dem auch sei … bisher glaubte ich auch nicht, dass danach noch etwas kommt … und das war wirklich schrecklich für mich. Können sie sich Ihre eigene Nichtexistenz vorstellen, Frau Pander?”
„Ich habe mir da noch nicht so viele-”
„Bitte entschuldigen Sie mein Geschwätz”, unterbricht mich Strauss. Er spricht laut und schwerfällig. Mir kommt der Gedanke, dass er vielleicht unter Schmerzmitteln steht. Oder ist es doch Alkohol?
„Bitte verzeihen Sie einem alten Mann, der nicht schlafen konnte und zu viel getrunken hat. Es ist nur dieser Horror, dieser Horror vor dem absoluten Nichts … und es ist ja nicht einmal das Nichts. Um vom Nichts zu sprechen, muss es ja jemanden geben, der davon sprechen kann. Und wenn da jemand ist, dann ist da ja nicht das Nichts. Man bekommt das alles einfach nicht zu fassen, da stößt man mit seinem erbärmlichen Menschenverstand an eine Grenze und … Oh Gott, ich will nicht sterben, ich will nicht einfach verschwinden.”
Strauss macht eine Pause und am liebsten würde ich auflegen. Ich schäme mich für diesen kranken alten Mann, fühle mich unangenehm berührt von seinem Lallen und von der Verzweiflung, die seine Stimme beherrscht. Dr. Strauss war immer (und trotz seiner Tricksereien) eine Autoritätsperson für mich, ein Muster an Intelligenz und Gelassenheit, der Prototyp des manchmal zerstreuten, nichtsdestotrotz aber hochintelligenten Professors. Und jetzt ruft er vormittags besoffen bei mir an und erzählt mir irgendwas über das Nichts und darüber, dass er nicht sterben will.
„Frau Pander, sind Sie noch da? Sind Sie noch in der Leitung?“
Er klingt gehetzt, regelrecht verzweifelt. Genauso gut könnte er fragen: Ist da draußen jemand? Kann mir jemand helfen?
„Frau Pander, hören Sie mich noch?”
„Ja, ich bin noch da.”
„Ich habe so furchtbare Angst davor, nicht mehr zu sein. Ich kann diesem Monstrum namens Tod nicht gelassen entgegen sehen, ich kann es einfach nicht. Aber vielleicht gibt es ja doch so etwas wie ein Jenseits … etwas, das über diese Welt hinausgeht. Und vielleicht haben wir bei dem, was in Ihrem Haus vor sich geht, einen Hinweis auf dieses
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