Vierter Stock Herbsthaus (German Edition)
alte Frau stemmt sich aus dem Sessel. Als sie ihren verletzten Fuß auf den Boden setzt, da stöhnt sie laut auf.
„Frau Diehl, bitte bleiben Sie sitzen … bitte stehen Sie nicht auf.”
Sie hört nicht auf mich. Sie versucht es weiter, klammert sich an den Wohnzimmertisch und zieht ihren mageren Körper Stück für Stück hoch. Ich müsste zu ihr gehen und dafür sorgen, dass sie sitzen bleibt. Aber ich tue etwas anderes, ich beuge mich wieder hinunter zu dem Schlüsselloch. Mit einer Armlänge Abstand schaue ich hindurch und sehe Licht. Was immer da auch war, es ist weg.
„HÖREN SIE AUF HIER RUM ZU SCHNÜFFELN!”
Jetzt ist sie auf den Beinen, humpelt auf mich zu, kommt immer näher. Ich staune über mich selbst, als ich die obere Schublade – ”WAS MACHEN SIE DA?” – der kleinen Flurkommode aufziehe. Drei Packungen Taschentücher, Notizzettel, ein uraltes, völlig zerfleddertes Telefonbuch und – Treffer! – mehrere Schlüssel, von denen nur einer so aussieht, als könne er in das große Schlüsselloch passen. Frau Diehls magerer Körper ist nur noch drei Meter von mir entfernt, als ich den Schlüssel ins Schloss stecke. Er passt, ich drehe ihn herum und stoße die Tür auf. Genau wie vermutet, das Zimmer ist völlig leer. Nur einige tote Fliegen. Waren die gerade eben schon da?
„HER MIT DEM SCHLÜSSEL!”
Krallenartig schließen sich die knochigen Finger um meinen Oberarm. Ich hätte nicht gedacht, dass dieser alte Leib so viel Kraft hat. Mit der anderen Hand nimmt mir Frau Diehl den Schlüssel ab. Während ich noch versuche, eine halbwegs brauchbare Entschuldigung zu formulieren, zerrt sie mich Richtung Wohnungstür. Ich wehre mich nicht, lasse es zu, dass sie ihre krummen Fingernägel in mein Fleisch gräbt.
„Schämen sollten Sie sich.”
Mit diesen mehr enttäuscht als wütend klingenden Worten schließt sie die Tür. Und ja, ich schäme mich. Was zum Teufel ist nur in mich gefahren? Was habe ich mir dabei gedacht? Mein Herz pocht und auf meinem Arm erkenne ich die halbmondförmigen Abdrücke ihrer Nägel.
Ich gehe einige Meter von der Tür weg und warte auf dem Flur bis der Pflegedienst kommt. Zehn Minuten später höre ich Stahlseile über Rollen laufen, dann das Quietschen der Aufzugtür. Ein junger Mann mit weißer Hose und einem großen schwarzen Koffer. Er sieht mich und sagt hallo.
„Hallo … ähm, bitte seien Sie vorsichtig, wenn Sie zur Frau Diehl gehen. Es könnte sein, dass sie aggressiv reagiert.”
Der Mann mit dem Verbandskoffer grinst mich an.
„Das wäre ja wirklich mal was Neues.”
„Und bitte benutzen Sie nicht den Aufzug, der ist nicht sicher. Ich hab' das schon einer Kollegin von Ihnen gesagt.”
Er verspricht mir, künftig die Treppe zu nehmen, klopft an die Tür von Frau Diehl und ich ziehe mich noch ein wenig weiter zurück. Zehn Sekunden, zwanzig Sekunden, dreißig Sekunden … dann geht tatsächlich die Wohnungstür auf. Erst als der Krankenpfleger mit seinem rabenschwarzen Koffer in der Wohnung verschwunden ist, verschwinde auch ich. Nichts wie raus hier, ich brauche frische Luft.
Fünf Minuten später stehe ich auf dem regennassen Parkplatz des Herbsthauses und denke über die Scheiße nach, die ich gerade gebaut habe. Mit Frau Diehl habe ich es mir verdorben, dafür kann ich nun davon ausgehen, dass auch sie Begegnungen mit dem Übernatürlichen hatte. Das Schlafzimmer, dieser völlig leere Raum, grenzt direkt an die Wohnung, die das Zentrum des Ganzen zu sein scheint. Was ist Frau Diehl in diesem Schlafzimmer passiert, das sie mit ihrem Bett ins Wohnzimmer hat flüchten lassen? Und was verdammt war auf der anderen Seite des Schlüssellochs? Was hat mich da angesehen? Oder war das nur meine scheiß Einbildung? Es ist doch heller Tag.
***
Drei Tage und drei Nächte sind vergangen. Keine besonderen Vorkommnisse, keine Begegnungen mit dem Übernatürlichen. Immer noch schlafen wir im Wohnzimmer, genau wie Frau Diehl, die entgegen meiner Erwartung nicht ins Krankenhaus gebracht wurde. Ihr Fuß sah schlimm aus und roch noch schlimmer, aber sie versuchen wohl, die Sache ambulant in den Griff zu bekommen.
Ab und zu mault Paula rum, überhaupt wirkt sie die letzten Tage gereizt. Im Grunde aber respektiert sie meine Weigerung, ins Schlafzimmer zurückzuziehen. Was soll sie auch tun? Mich an den Haaren in dieses verfluchte Zimmer schleifen?
Vorgestern habe ich Frau Diehl einen Entschuldigungsbrief unter der Tür durchgeschoben, ich traute mich
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