Vierter Stock Herbsthaus (German Edition)
Jenseits. Und ja, es würde mich unwahrscheinlich beruhigen … es würde mir so gut tun, wenn ich wüsste, dass es ein Weiterexistieren über den Tod hinaus gibt … in welcher Form auch immer. Wäre es denn nicht schrecklich, wenn alles zu Ende wäre? Dann hätte doch alles keinen Sinn. Verstehen Sie? Alles wäre völlig sinnlos … jede einzelne Tat, jeder Gedanke.”
„Herr Strauss, vielleicht sollten Sie sich besser hinlegen und sich ausruhen. Ich rufe Sie auf jeden Fall an, wenn ich etwas Neues weiß.”
„Versprechen Sie mir das?”
„Ja, ich verspreche es, aber bitte legen Sie sich hin. Und bitte rufen Sie mich nie wieder in solch einem Zustand an.”
Schweigen. Ich höre nur seine Atemgeräusche. Als Strauss wieder spricht, da hört er sich plötzlich sehr nüchtern an.
„Ja, ich bitte um Verzeihung. Brauchen Sie noch Geld?”
„Nein, bitte … bitte ruhen Sie sich aus. Ich brauche kein Geld.”
„Sind Sie sicher?”
„Ja, wirklich nicht. Auf Wiederhören, Herr Strauss.”
„Auf Wiederhören.”
Strauss legt auf und ich weiß nicht, wie ich mich fühlen soll. Nie und nimmer hätte ich gedacht, dass es dem Mann so dreckig geht … dass er vormittags schon Alkohol trinkt. Okay, er hat nur noch wenige Monate zu leben und natürlich ist das beschissen … aber noch vor Kurzem, als ich mit ihm in diesem Fernsehraum war, da wirkte er so gefasst, so gelassen.
Ich realisiere, dass ich mich für Strauss schäme, dass mich seine alkoholgetränkte Verzweiflung unangenehm berührt. Vor Jahren erzählte mir eine Freundin, dass sie ihren Vater dabei erwischt hatte, wie er mit offener Hose auf dem Wohnzimmerteppich vor dem Fernseher kniete und zu einem Sadomaso-Porno onanierte. Sie ging wortlos aus dem Zimmer und ihr Vater zog sich wortlos die Hose hoch. Keiner der beiden sprach über die Angelegenheit, sie machten einfach weiter, als wäre nichts geschehen. Wahrscheinlich werden Strauss und ich es auch so machen … einfach so tun, als hätte dieser Anruf nie stattgefunden.
Das Telefon klingelt. Oh Kacke, Strauss noch mal. Was will er denn jetzt noch?
„Hallo Frau Pander, danke dass Sie das Gespräch angenommen haben. Ich wollte Sie fragen, ob Sie sich schon einmal mit der älteren Dame unterhalten haben, die zwei Wohnungen weiter wohnt?”
Ich sage Strauss, dass ich mit Frau Diehl schon mehrmals gesprochen habe. Hatte ich ihm das nicht schon erzählt?
„Könnten Sie bitte in den nächsten Tagen diese Frau noch einmal besuchen? Könnten Sie bitte in Erfahrung bringen, ob sie schon einmal eine der Begegnungen hatte, von denen uns Berichte vorliegen?”
Ich verspreche ihm, zu Frau Diehl zu gehen und verabschiede mich. Ein drittes Gespräch werde ich nicht annehmen. Hätte ich ihm das mit dem Mädchen im weißen Kleid erzählen sollen? Nein, nicht in seinem Zustand. Was für eine Scheiße.
***
Sie braucht fast eine Minute bis zur Tür. So langsam war sie doch überhaupt nicht? Hab' ich die alte Frau gerade vom Klo geholt?
„Ich bin gleich da”, kommt es aus der Wohnung. Und dann noch mal, diesmal etwas näher:
„Einen Moment, ich bin unterwegs.”
Als die Tür aufgeht, da weiche ich einige Zentimeter zurück. Mir kommt ein heftiger Gestank entgegen, eine Mischung aus Kot, Krankheit und Verwesung.
In der Tür steht Frau Diehl, sie trägt einen zerknitterten Bademantel und fragt mich, was ich denn von ihr wolle. Als ich an ihr herabsehe, da weiß ich, woher der Gestank kommt. Ein dicker Verband umschließt ihren rechten Fuß. Er sieht feucht aus, schmutzig und klebrig, vollgesogen mit Wundflüssigkeit, Blut, Schweiß, Eiter … was auch immer. Vorne ragen blau angelaufen die Zehen heraus. Kein Wunder, dass die alte Frau so lange bis zur Tür gebraucht hat, jeder einzelne Schritt muss die reinste Folter sein.
„Ich fragte, was Sie von mir wollen. Würden Sie mir bitte antworten!”
Immer noch starre ich auf dieses verdreckte Mischmasch aus Pflastern, Mull und Schmutz.
„Frau Diehl, das muss schleunigst behandelt werden.”
Sie schaut mich misstrauisch an.
„Ach so, Sie sind ja Ärztin.”
„Ja”, lüge ich. Eigentlich ist es nur eine halbe Lüge, immerhin studiere ich Medizin. Das hatte ich ihr damals auch erzählt, bei unserem ersten Treffen.
„Na gut. Dann kommen Sie rein.”
Frau Diehl humpelt stöhnend zu ihrem verstellbaren Fernsehsessel. Fünf Minuten später habe ich den Verband entfernt und darunter ist tatsächlich so etwas wie ein Fuß … und darauf eine
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