Vierter Stock Herbsthaus (German Edition)
großflächige, völlig vereiterte Brandwunde. Ein Teil des Gewebes ist abgestorben, der Gestank ist fürchterlich.
„Wie ist denn das passiert”, frage ich.
„In der Küche … kochendes Wasser.”
„Haben Sie das selbst verbunden?”
Sie schaut mich nur starr an, antwortet nicht. Ich weiß, dass sie es selbst gemacht hat. Niemand mit nur ein klein wenig medizinischem Wissen oder Pflegeerfahrung würde so einen schlechten Verband machen.
„Zu Ihnen kommt doch der Pflegedienst. Wieso haben Sie denen das nicht gesagt?”
Wieder schaut sie mich nur stumm an. Hoffentlich wirft sie mich nicht gleich raus.
„Haben Sie irgendwo die Nummer von denen?”
Sie scheint zu überlegen, etwa zehn Sekunden vergehen, dann antwortet sie doch.
„Am Telefon.”
Ich lege ihren Fuß auf einem sauberen Handtuch ab und gehe in den Flur, finde die Nummer und rufe an. Ich erfahre, dass Frau Diehl den Pflegedienst seit drei Tagen nicht mehr in die Wohnung gelassen hat. Was zum Teufel soll das? Will sie an Blutvergiftung krepieren? „Wir können ja nicht die Tür eintreten”, sagt die Frau am anderen Ende der Leitung.
„Könnten Sie bitte gleich vorbeikommen? Die Wunde muss unbedingt versorgt werden. Eigentlich müsste die Frau Diehl direkt ins Krankenhaus.”
„Wir schicken jemanden vorbei. Danke, dass Sie angerufen haben.”
Ich gehe zurück ins Wohnzimmer und mache ein Fenster auf. Die Augen der alten Frau folgen jeder meiner Bewegungen.
„Es müsste bald jemand kommen, der sich um Ihren Fuß kümmert. Haben Sie starke Schmerzen?”
„Sie können sich doch um meinen Fuß kümmern“, antwortet Frau Diehl. „Sie sind doch Ärztin.”
„Aber ich kenne mich nicht mit Brandwunden aus”, rede ich mich heraus. Wieder weht mich der Geruch ihrer vereiterten Wunde an und ich versuche, ein wenig von der alten Frau wegzurücken. Sie bemerkt es, schaut abwechselnd auf ihren Fuß und mir in die Augen. Dann grinst sie mich an.
„Nicht gerade wie Rosenwasser, oder?”
„Nein, nicht direkt”, antworte ich.
Frau Diehl drückt einen Knopf an ihrem electric Fernsehsessel und bringt sich in eine fast liegende Position. Ihr verfaulender Fuß hebt sich vom Handtuch, ist jetzt noch näher bei mir. Macht sie das absichtlich? Ich versuche unauffällig durch den Mund zu atmen, es bringt nichts … nach einigen Minuten stehe ich auf.
„Darf ich mal Ihr Bad benutzen?”
„Ja, natürlich.” Immer noch klingt Frau Diehl gereizt. Mit Sicherheit hat sie Schmerzen.
Im Badezimmer wasche ich mir Gesicht und Hände, setzte mich dann auf den Badewannenrand und atme tief durch. Puh, hoffentlich kommt gleich jemand, der sich um die alte Frau kümmert.
Als ich so dasitze und das Blumenmuster auf den Fliesen studiere, da kommt mir eine Idee. Schon einmal habe ich mich gefragt, warum Frau Diehl ihr Bett im Wohnzimmer stehen hat.
Vorsichtig öffne ich die Badezimmertür, katzenartig schleiche ich hinaus auf den Flur. Frau Diehl liegt etwa sieben Meter von mir entfernt in ihrem Fernsehsessel und schaut Richtung Decke, sie kann mich nicht sehen. Ganz langsam bewege ich mich auf die Tür zu, hinter der das Schlafzimmer liegen müsste. Ich drücke die Klinke … abgeschlossen. Warum ist dieses Zimmer abgeschlossen?
Ein schneller Blick zu Frau Diehl, durch die offene Wohnzimmertür sehe ich zwei Füße, die über den Fernsehsessel ragen, den guten und den schlechten Fuß. Ich bücke mich, stütze mich am Türrahmen ab, und schiebe mein Auge Richtung Schlüsselloch. Eine weiße Wand und beigefarbenes Linoleum. Sonst nichts. Der Raum scheint leer zu sein, keine Möbel, keine Bilder an den Wänden.
Ganz plötzlich, ich bin zu erschrocken um zurückzuweichen, schiebt sich von der anderen Seite etwas vor das Schlüsselloch … auf einmal nur noch Dunkelheit … und in dieser fast vollständigen Dunkelheit eine Bewegung. Was war das? Das Blinzeln eines Augenlids?. Oh Gott, da schaut mich etwas an, da schaut mich von der anderen Seite aus etwas an … ich bin mir ganz sicher!
Ich stoße mich vom Türrahmen ab, stolpere in den Flur zurück, sehe mich um, schaue zu Frau Diehl … und hole mir den zweiten fetten Schrecken. Die alte Frau sitzt aufrecht in ihrem Sessel und starrt mich an. Dann schreit sie.
„VERLASSEN SIE AUF DER STELLE MEINE WOHNUNG!”
„Frau Diehl-”, beginne ich. Aber sie kräht mir dazwischen.
„ICH WILL DASS SIE MEINE WOHNUNG VERLASSEN!”
Ich hebe die Hände … als könnte ich mir so ihr Geschrei vom Leib halten. Die
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