Vilm 01. Der Regenplanet (German Edition)
aufgefallen.«
»Nein, sah nicht so aus«, meinte Gerda, »du musst das nicht so ernst nehmen, bitte.«
»Nicht ernst nehmen?« Eliza schüttelte den Kopf. »Alle haben zugehört, keiner hat ein Wort dagegen gesagt, gegen diese ... Schimpftirade. Ist es denn wirklich so schlimm? Dabei ...« Dabei wisst ihr längst nicht alles, hätte Eliza beinahe hinzugesetzt. Die schlimmsten Dinge wisst ihr nicht. Das Schlimmste, Gerda, weißt du nicht. Von wegen anderes Schiff. Von wegen, dein Julian sucht dich. Sie zog die Decken fester um sich; sie fror nachts auf dieser Welt und jetzt war ihr kalt, noch ehe die nächtlichen kalten Regengüsse eingesetzt hatten.
»Du wirst sehen«, sagte Gerda, »dass nicht alle so denken wie Tina. Und du musst Tina verstehen. Sie hatte ihre komplette Familie auf der OOSTERBRIJK. Jetzt ist sie allein. Ihre Eltern, ihr Kind, ihre Großeltern, ihre Geschwister, ihre Onkel und Tanten, ihre Nichten und Neffen, von ihren Freunden ganz zu schweigen: Alle waren auf der OOSTERBRIJK. Sechsundvierzig Menschen, die ganze Familie, groß wie alle Familien von Serafim, und genauso familienbewusst. Alles, was ihr etwas bedeutet hat, war auf dem verfluchten Weltenkreuzer. Und dort ist es immer noch, oder das, was davon übrig ist.« Eliza war sprachlos. Gerda wandte sich ab und sah die Zentralierin nicht mehr an. »Man hat dich übrigens tatsächlich in den Resten eines Prallkissens gefunden, Eliza, ganz aus der Luft gegriffen ist das alles also nicht. Tina weiß nichts davon, sonst wäre es noch schlimmer gewesen ... Und dieses Fest: Es war ein Abschiedsfest. Ihr seid schließlich die zweite Expedition ins Gebirge. Die erste kam nie zurück. Das ist auch Bestandteil eures Auftrages, die zu suchen, herauszufinden, was passiert ist. Das wird nur keiner laut aussprechen. Die anderen könnten ja noch leben. So, das musste ich dir sagen.« Gerda drehte sich um und murmelte etwas vor sich hin, Eliza solle sie heute möglichst nicht mehr ansprechen, dann ging sie eilig ins Bett.
Eliza lag lange wach und versuchte vergeblich einzuschlafen. Sie musste an das epsilonische Raumschiff denken und an den ebenso faszinierenden wie erbärmlichen Anblick, den die alte Erde aus dem hohen Orbit des Artefakts bot. Vielleicht bin ich dem verdammten uralten Ding näher verwandt, als ich denke, sagte sie sich. Wir umkreisen die anderen, und der gewaltige kalte Abstand wird und wird nicht geringer. Immer bleiben wir außen vor. Niemand findet einen Weg, die Isolation zu durchbrechen. Eliza konnte nicht einschlafen. Es lag nicht an der Kälte, an dem eisigen Regen, der auf das Zeltdach trommelte und die Luft drinnen abkühlte. Die alten Alpträume Elizas – She Tsi, die Gleiter, das Schiff, der Trupp – wurden ergänzt von einem neuen. Und der war unerträglicher als die anderen. Er war ungewiss. Und er konnte Wirklichkeit werden, wenn sie nicht aufpasste. Wahrscheinlich war es bereits zu spät, und sie konnte nichts verhindern.
»Gerda?«
»Ja?«
»Als ihr euch gestritten habt, Tina und du, hier an meinem Bett, als ich krank war – da wollte sie nicht, dass ich dieses Medikament bekomme, oder?«
Kurzes Schweigen. »Ja. Es war die allerletzte Ampulle.«
6. In die zerbrochene Stadt
Heftig atmend, standen sie zu viert auf einem Podest in luftiger Höhe, von dem herab sie einen weiten Blick hatten. Viel hatte nicht gefehlt, und sie wären nur noch zu dritt gewesen. Hinter ihnen lag ein Weg, der am Anfang einfach ausgesehen hatte.
Ein Treppenschacht mit abgerissenem Geländer und teilweise fehlenden Stufen – aber er wirkte verheißungsvoll, als sie von unten hineingeblickt hatten. Ein Weg, der hinaufführte. Und hinauf hatten sie gewollt. Es nützte nichts, in den Schluchten zwischen den durcheinandergewürfelten Segmenten des Weltenkreuzers umherzuirren. Dort unten waren alle Luken ins Innere der stahlbewehrten Blöcke hoffnungslos verkeilt – falls es überhaupt welche gab. Also war der von der Vilmregierung ausgeschickte Trupp diesen Schacht emporgeklettert. Wie hätten sie ahnen können, dass die oberen zwei Drittel seiner Länge frei in die dunstverhangene Luft ragten? Dass sie im Innern eines Strohhalms kletterten? Unter einem Windstoß oder einem zu heftigen Schritt begann das Ding zu schwanken, wobei überlastete Spanten grell quietschten. Joern hatte mit blitzschnellem Ruck am Seil den Sommersprossigen aus der Knickzone gebracht, eine halbe Sekunde, ehe dort die Wände dröhnend aneinanderkrachten, den Rückweg
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