Vilm 01. Der Regenplanet (German Edition)
Weltenkreuzer tatsächlich Menschenwerk waren, lagen lange zurück. Hoffentlich, dachte Eliza, erinnert sich jetzt niemand daran, was aus den ersten Weltenkreuzern damals geworden ist. Die hatten so etwas wie eigenen Willen entwickelt, was unter anderem zu einem neuen Asteroidensystem bei Geronimo geführt hatte und einem Rätsel, das heute noch um den Neptun kreiste.
Tagelang wurde Eliza verwirrt von widerstreitenden Gefühlen: auf der einen Seite die Trauer um die verschollenen Gruppen, von denen keine Nachricht kam und wohl auch nie eine kommen würde, und Wut – hilflose Wut – auf die bedrohlichen Maschinen, die da irgendwo arbeiteten. Das unsichtbare Ungeheuer hatte jetzt einen Namen. Es verlor jedoch dadurch kein einziges Haar aus seinem undurchdringlichen Pelz. Es blieb eine grausige Vorstellung, eine vollkommen von menschlichen Rücksichten und Sicherungen befreite Technologie. Das war Angst, die Eliza spürte. Und es gab ihre hilflose Wut auf die Serafimer. Jeder Versuch Elizas, ihr Wissen und ihre Fähigkeiten anzubieten, wurde mit höflicher und entschiedener Ablehnung beantwortet. Sie gehörte eben nicht zur Familie.
Auf der anderen Seite hatte sie als willkommene Ablenkung die atemlose Hektik und Eile, mit der alles, was erreichbar und beweglich war, aus dem Bereich des Gebirges herausgeholt wurde. Die Überlebenden planten nicht mehr die Eroberung einzelner Segmente; dafür, ahnten sie, war keine Zeit mehr. Es wurde alles ins Lager geschleppt, buchstäblich alles, was nur beweglich war. Irgendwie konnte man es sicher einmal gebrauchen. Und wenn nicht – egal. Verschlossene Container, in denen nachzusehen sich niemand Zeit nahm. Kraftstationen. Ersatzteillager. Möbel. Stapel von Baumaterial. Allerlei medizinische Ausrüstung bis hin zu einem kompletten Medlabor – die einzige Maschine, die sie demontierten. Solch ein automatischer Arzt war einfach zu wichtig. Das Lager der Schiffbrüchigen, eine ehemals klägliche Anhäufung von Zelten und windschiefen Bungalows, verwandelte sich in eine verrückte Stadt aus Rohprodukten und Fertigteilen, seltsame Architektur unter großen Schutzhüllen, aufgehäufte Technik; alles geordnet in Blöcken abgelegt, zwischen denen sich Wege bildeten. Bald sprach man von einer Hauptstraße, die vom sogenannten Regierungsgebäude zum Vorgebirge führte, von einem Spiegelweg, der wegen der dort gestapelten blanken Metallteile so hieß, und von der Kühlen Gasse, in der es Kältemaschinen gab und die Vorratscontainer für Lebensmittel. Jener Bungalow, in dem Schwester Gerda und ihre Helfer die essbaren Dinge verwalteten, erhielt von irgendeinem Witzbold den Namen »Markthalle« – und dieser Begriff bezeichnete bald die ganze Gegend, in der die sich anhäufenden Mengen verschiedenster Konserven gelagert wurden. Besonders begehrt war Kaffee. Der serafimische Kaffee war berühmt für sein Aroma, seinen unvergleichlichen Geschmack und seinen hohen Koffeingehalt; und hartnäckig hielt sich die Legende, nur der auf Serafim angebaute Strauch könne die Qualität der irdischen Frucht erreichen. Diese Legende war kaum nachprüfbar, schließlich war es einige Jahrhunderte her, seit zum letzten Mal eine auf der Erde angebaute Kaffeebohne auf Atibon Legba gemahlen worden war. Die Serafimer selbst gingen davon aus, dass ihre Heimat den besten Kaffee hervorbrachte, den man in diesem Universum je hatte bekommen können. Jede Packung Serafim-Kaffee wurde gehütet wie ein Schatz. Schwester Gerda hatte auf diese Weise eine neue Verwendung für den riesenhaften Tresor gefunden, der ihr aus dem Gebirge gebracht worden war. Sie bewahrte die Kaffeevorräte darin auf. Im Lauf der Zeit verschwand der Stahlschrank fast zwischen all den gestapelten Konserven.
Zwar gab es reichlich davon, doch befasste man sich vorsorglich mit der Frage, ob irgendetwas von den Früchten Vilms essbar sein mochte. Dabei taten sich einige Kinder hervor, die einfach das aßen, was sie die einheimischen Tiere, die sich manchmal bis in Sichtweite heranwagten, von den wirren Pflanzen dieser Welt fressen sahen. Da gab es eine besonders drollige Art, die man wegen der langen Beine und des merkwürdigen Aussehens ihrer beiden spiegelgleichen Köpfe Rehschweine nannte. Diese Tiere machten den Kindern das vor, was rasch mit der netten Formulierung »von den Früchten naschen« belegt wurde. Schwester Gerda behandelte die daraus resultierenden Magenverstimmungen und Darmkrämpfe mit derselben Schafsgeduld, mit der sie die
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