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Vilm 01. Der Regenplanet (German Edition)

Vilm 01. Der Regenplanet (German Edition)

Titel: Vilm 01. Der Regenplanet (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karsten Kruschel
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ausgesehen hatte, ihm jedoch unter den Fingern zerbröckelte. Angeseilt? Das war er, natürlich. Er stürzte, schwang am Seil und wurde von irgendwelchen hervorstechenden Teilen aufgespießt, zersplitterten Rohren oder so etwas. Die Männer stiegen hinab, befreiten ihn mehr schlecht als recht von den boshaften und tödlichen Waffen, zogen ihn hoch. Er verblutete, während sie ihn per Trage ins Lager schleppten und dazu mehr Zeit brauchten, als ihm geblieben war. Sie brachten den Mann zu Mechin, und er war seit Stunden tot. Der Arzt ließ ihn liegen, griff nach den Medikamenten und hetzte die Leiter hoch, zu dem kranken Mädchen. Die Leute vom Trupp starrten den zerfleischten Leib ihres Freundes an. Mechin hatte nur einen Blick auf ihn geworfen, ihn nur kurz berührt. Kein Versuch der Rettung, keine Reanimation, keine Hoffnung, kein Trost. Insgeheim flüsterten sie Flüche, als sie das sahen. Bei dem Kind konnte der Arzt den Kollaps auffangen und es retten.
    Alles wurde anders, und vielleicht schlimmer, als Mechin zu Will gerufen wurde. Es war ein regnerischer, trüber Tag, genau das Wetter, das immer war. Spät abends kam die übliche Nachricht: Einem Kind gehe es nicht gut, er solle es sich ansehen, ob er kommen könne. Wozu war er sonst da?
    Es war jene Familie aus dem Vorgebirge, die ein Pärchen verwaister Kinder aufgenommen hatte zu ihren beiden eigenen. Die Unterkunft hatten alle schon bewundert. Die Familie Carlos war in einen Expeditionspanzer gezogen, den die Wucht des Aufpralls halb zerdrückt hatte. Da die intakte Hälfte der schildkrötenartigen Wölbung nach oben zeigte, bildete sie ein gutes Dach. Die zerschmetterten Inneneinrichtungen waren entfernt worden, und Carlos hatte den Raum unter der Wölbung so geteilt, dass jeder Raum eines der eingelassenen Bullaugen bekam. So waren Zimmer mit abenteuerlichen Grundrissen entstanden. Der Fußboden lag in jedem Raum in einer anderen Höhe, sodass die Behausung für jeden Fremden zur Stolperstrecke wurde. Einen scheinbar unsinnig verwinkelten Flur gab es und einen Eingang, der praktisch unter diesem merkwürdigen Haus lag und bei starkem Regen zum See wurde. Dann drehte Carl junior, der älteste Sohn der Familie, einen halben Tag lang die Pumpe. Für elektrischen Betrieb fehlte einstweilen noch Strom – der wurde für andere Dinge benötigt.
    Eben dieser Carl junior erwartete Mechin, als er sich auf den Weg zur Familie Carlos machte. Er war ein dreizehnjähriger, schmaler Junge, dem das Leben vor dem Absturz inzwischen als ein ferner, unwirklicher Traum erschien. Er konnte in andauerndem Regen und ewig geschlossener Wolkendecke Dutzende von Unterschieden entdecken und beschreiben, die Erwachsenen nie auffielen. Er war auch bei blödsinnigstem Wetter, das jeden von den Großen trübsinnig machen konnte, immer munter und vergnügt. Manchmal erzählte er die verrücktesten Geschichten von den Regendrachen, die angeblich in den Wolken über Vilm lebten. An diesem Abend war Carl junior still und schmaler als gewöhnlich. Schweigend gingen der Junge und der Arzt zur Unterkunft der Familie, vorbei an Kuppeln, die früher zur astronomischen Sektion gehört hatten und jetzt regensichere, schlecht gelüftete Häuser waren. Sie ließen die aus Blechbahnen zusammengeschweißten Hütten links liegen, in denen die kleinen elternlosen Kinder schliefen, gemeinsam mit den ledigen Frauen, die mit Kinderpflege mehr als ausgelastet waren. Die Hütten hatten überdachte Gänge zu der großen, geborstenen Luftschiffgondel, die zum großen Spielplatz umgebaut worden war. Das alles lag still und dunkel da wie ein belagertes Dorf. Belagert von diesem blödsinnigen Erreger, dachte der Arzt, als er mit dem Jungen vor sich zum geplatzten Panzerkäfer hinüberstapfte. Er versuchte, mit Junior zu reden. Der schwieg beharrlich und ließ sich nicht anmerken, ob er überhaupt etwas gehört hatte. Der Junge wusste genau, welche Behandlung man anwenden musste bei Kindern, die an Pseudo-Diphtherie erkrankt waren.
    Mechin hatte kaum Medikamente. Also musste er kranken Kindern unter möglichst sterilen Bedingungen den Hals aufschneiden und eine Hülse in die Luftröhre einsetzen, damit sie nicht erstickten; und danach mussten sich Eltern und Arzt auf die Abwehrkräfte des Körpers verlassen. Hin und wieder, wenn die Männer aus dem Gebirge etwas mitbrachten, konnte er solche Operationen umgehen. Aber nicht oft. Dieser Junge – Carl junior – wusste genau, was der Doktor seinem Brüderchen antun

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