Violas bewegtes Leben
die Tür zu einem großen, sonnigen Zimmer auf, dessen Wände lila und weiß gestreift gestrichen sind. Ein Stockbett und ein Klappbett stehen darin. »Ihr könnt auf dem Stockbett und dem Reisebett schlafen.«
»Und wo schläfst du?«, frage ich sie.
»Auf meiner guten alten Luftmatratze. Keine Sorge. Ich mag das.«
Romy, Marisol und ich stellen unsere Reisetaschen neben die Betten. Es ist lustig, unser Wohnheimzimmer komplett von South Bend nach Chicago verlegt zu sehen. Wir sind echt gut darin, als Gruppe zu verreisen.
»Das Badezimmer ist gleich gegenüber«, sagt sie. »Es ist übrigens nur für Mädchen.«
»Wie schade. Ich glaube, Romy hat gehofft, sie könnte es mit Kevin teilen«, witzle ich.
»Viola! Ist es so offensichtlich?«, fragt sie.
»Nicht so offensichtlich wie der Lipgloss.«
»Ehrlich?«
»Da seht ihr, was passiert, wenn ein Mädchen sich in einen Jungen verknallt: Sie versteht keinen Spaß mehr«, sage ich. Marisol und Suzanne lachen.
Ich entdecke eine Steckdose und lade mein Handy auf. Jared hat versprochen, mir nachher eine SMS zu schicken, und ich will nicht, dass der Akku schlappmacht. Suzanne schaut, ob sie eine SMS bekommen hat, und Romy und Marisol tun es ihr nach. Schließlich kann ich es keine Sekunde länger aushalten und frage: »Suzanne, warum sitzt dein Vater im Rollstuhl?«
»Bitte entschuldigt, dass ich es euch nicht vorher gesagt habe«, seufzt Suzanne.
»Du kannst uns doch alles erzählen.« Marisol setzt sich neben sie auf das Bett.
»Ich weiß.«
»Was ist passiert?«, fragt Romy leise.
»Er hat MS. Ihr wisst schon, Multiple Sklerose. Lange Zeit ging es ihm gut, doch im letzten Jahr ist es richtig schlimm geworden. Und jetzt kann er nicht mehr gehen.«
Romy mit ihren vielen Eltern und Marisol mit ihren und ich mit meinen – wir kennen so ein Problem nicht. Ehrlich gesagt denke ich auch nicht viel darüber nach. Meine Eltern sind gesund, und meine Großmutter wirkt jünger als meine eigene Mutter.
Jetzt verstehe ich, warum Suzanne nachts weint. Sie trägt eine tiefe Traurigkeit in sich, und bestimmt macht sie sich Sorgen, dass es ihrem Vater irgendwann noch schlechter gehen könnte. »Das tut mir leid, Suzanne.«
»Schon gut.«
»Nein, es ist sicher hart, so was zu verkraften«, sagt Marisol. »Du bist weit weg im Internat, und es muss furchtbar traurig für dich sein, nicht bei ihm sein zu können.«
»Ich wollte nicht ins Internat. Ich wollte hierbleiben. Aber eswar schon immer so geplant, und mein Vater hat darauf bestanden, dass ich gehe. Er will, dass wir alle unser Leben ganz normal leben, auch wenn das bedeutet, ihn manchmal zu ignorieren oder gegen seine Regeln zu verstoßen. Er sagt, bei den Santrys muss nicht alles perfekt sein.«
»Warum hast du uns nie davon erzählt?«
Suzanne senkt den Blick. Ihre Augen füllen sich mit Tränen. »Ich weiß es nicht. Ich glaube, ich dachte, wenn ich nicht darüber spreche und niemandem sage, dass er krank ist, dann wäre er es vielleicht auch nicht. Dann hätte ich das Ganze vielleicht nur geträumt.«
»Ich verstehe«, sagt Marisol. »Du wolltest nicht, dass es Wirklichkeit ist.«
Mrs. Santry klopft leise an die Tür. »Alles in Ordnung bei euch?«
»Ja, alles bestens«, zwitschern Romy und ich.
»Suzanne meinte, ihr Mädchen hättet vielleicht Lust auf einen Ausflug ins Art Institute?«
»Das wäre toll«, sagt Marisol.
»Dann macht euch frisch und kommt nach unten.«
Wir packen rasch aus, verstauen die Kleider ordentlich in den leeren Schubladen in Suzannes Kommode und stopfen die leeren Reisetaschen in den Schrank. Dann nehmen wir unsere Handtaschen.
Ehe wir das Zimmer verlassen, nimmt Marisol Suzanne in den Arm. Romy schaut mich an, ich schaue sie an. Wir gehen zu Suzanne und Marisol und schlingen die Arme um die beiden.
»Schon gut, schon gut, ich spüre eure Liebe.« Suzannes Tränen verwandeln sich in ein Lachen. Wir alle lachen.
»Also, wenn Romy nur Kevins Liebe spüren könnte. Daswäre das schönste Thanksgiving-Geschenk für sie«, sage ich neckend.
»Ich werde meine Leidenschaft zügeln, ehrlich«, verspricht Romy. Aber das bezweifle ich: Bevor wir gehen, trägt sie noch mehr Lipgloss auf.
Das Art Institute, Chicagos Museum für moderne Kunst, liegt am Grant Park. Es ist ein riesiges Gebäude, nicht ganz so groß wie das Metropolitan Museum in New York, aber genauso beeindruckend. In der Dauerausstellung sind alle großen Maler vertreten: George-Pierre Seurat, Edward Hopper,
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