Violas bewegtes Leben
biegt Kevin in eine Einfahrt ab. Die Santrys bewohnen ein Haus im Cottage-Stil mit einem schwarzen schmiedeeisernen Tor. Nobel. An den Bäumen hängen noch ein paar goldene Blätter, doch der Boden ist sehr gewissenhaft vom Laub befreit worden. Im Garten, wo im Sommer grünes Gras wächst, dominiert nun ein helles Braun. Über der Haustür hängt eine große Seidenfahne mit einem aufgestickten Truthahn. Wir nehmen unsere Taschen und folgen Kevin den Fußweg entlang.
»Ma, wir sind da. Ich habe die Kinder abgeholt«, sagt er, als wir ins Haus kommen. Marisol und ich schauen uns an. Wirwohnen alleine, weit weg von zu Hause, da kann man uns doch wohl kaum als Kinder bezeichnen. Wir schauen zu Romy, die eine besorgte Miene macht. Sie möchte auf keinen Fall, dass ihr Schwarm sie für ein Kind hält. Der energische Zug um ihren Mund wird etwas weicher, aber dann bekommt sie diesen entschlossenen Blick. Ich kenne den Blick an ihr vom Hockey, wenn sie einen Weg ausbaldowert, um ein Tor zu schießen. Sie wird Kevin beweisen, dass sie kein Kind, sondern eine junge Frau ist. Das wird ihre Aufgabe für das Wochenende sein.
Das Haus der Santrys riecht nach frisch gebackenen Keksen (vielleicht sind gerade welche im Ofen). Das Wohnzimmer ist groß und gemütlich mit großen, freundlichen Gemälden an der Wand und vielen Bücherstapeln. In einer Ecke thront ein Klavier und vor den Fenstern stehen Blumentöpfe.
Suzannes Mutter kommt aus der Küche. Sie trägt ihre Bürokleidung und darüber eine verblichene Schürze, auf der steht: UND DAFÜR HABE ICH STUDIERT ? »Da seid ihr ja!« Mrs. Santry begrüßt uns der Reihe nach mit einer Umarmung, worauf ich mich sofort willkommen fühle und meine Mutter vermisse. Wir folgen ihr in die Küche. Es ist eine helle gelbe Landhausküche mit einem blauen Fliesenboden und Töpfen, die über der Spüle hängen. Ein großes Erkerfenster schaut auf den Garten hinaus, in dessen Mitte ein frei stehender Swimmingpool steht.
»Kommt und begrüßt meinen Vater«, sagt Suzanne.
Nach dem Foto auf ihrem Schreibtisch erwarte ich nun einen großen Mann zu sehen (die Santrys sind alle Riesen). Wir folgen ihr zu dem Erkerfenster, wo ihr Vater sitzt und liest. Ich stutze. Mr. Santry sitzt gar nicht auf einem Küchenstuhl, er sitzt in einem Rollstuhl, der bis ganz an den Tischherangeschoben ist. Seine Füße ruhen auf dem Boden, nicht auf den Bügeln.
Romy schaut erst mich an, dann Marisol. Wir sind verwirrt. Offenbar hat ihr Vater einen Unfall gehabt. Aber warum hat Suzanne uns nichts davon erzählt?
Suzanne rennt zu ihrem Vater und springt auf seinen Schoss.
»Hey«, sagt er und lacht. Mr. Santry sieht genauso gut aus wie Kevin, und groß ist er auch. Suzanne nimmt seinen Arm, den er offenbar nicht selbst anheben kann. Sie gibt ihm auf jede Wange einen Kuss und umarmt ihn dann ganz fest.
»Wen hast du denn diesmal mitgebracht?« Er grinst uns an.
Romy, Marisol und ich schauen uns an. Dann lache ich, und die anderen tun es mir nach. »Wir sind nur ein paar Schnorrer«, sage ich. »Internatsschülerinnen, die in den Ferien nirgendwohin können.«
»Aber wir würden sowieso nirgendwo anders sein wollen«, sagt Romy ernsthaft und schaut dabei Kevin an.
»Nun, willkommen bei uns«, sagt Mr. Santry und lächelt.
»Sie sollten Mitleid mit uns haben«, sage ich zu ihm. »Wir sind ganz allein auf der Welt.«
»Jetzt nicht mehr«, sagt Kevin. Bei diesen Worten richtet Romy sich auf und streicht die verbliebenen blauen Strähnen in ihrem Haar glatt.
»Wie wär’s, wenn ihr euer Gepäck nach oben bringt? Wir haben heute Nachmittag noch viel vor«, sagt Mrs. Santry.
»Klar.« Suzanne klettert vom Schoß ihres Vaters und gibt ihm noch einen Kuss. Wir folgen ihr in den Flur. Ich drehe mich noch einmal zu Mr. Santry um, der uns lächelnd nachschaut. Mrs. Santry geht zu ihm und steckt die Decke fest, die auf seinen Beinen ruht. Sie beugt sich hinab und küsst ihn auf die Wange.
Ich folge Suzanne und den anderen Mädels die Treppe hinauf. Das Haus wirkt wie ein Landgasthof, mit der Blumentapete und den alten Holzmöbeln, die kobaltblau oder perlweiß lackiert sind. An den Wänden hängen Kunstdrucke in fröhlichen Farben, und zahlreiche Fotos ziehen sich die Treppe entlang nach oben. Die Bilder in den groben Holzrahmen zeigen die Santrys als Kinder. Romy bleibt vor den Bildern des kleinen Kevin stehen. Ich gebe ihr einen Stupser mit dem Ellbogen, damit sie weitergeht.
»Hier ist mein Zimmer.« Suzanne stößt
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