Violas bewegtes Leben
Bildmaterial.« Ich verwende absichtlich den Fachjargon, damit sie mich nicht bitten, Filme von ihnen zu machen, wo sie in Haarbürsten hineinsingen und in ihren Schlafanzügen herumhampeln. Vielleicht begreifen sie dann, dass ich ein höheres Ziel habe. Ich werde ihnen gar nicht erst erzählen, dass ich ein Videotagebuch führe. Sobald man bei Mädchen das Wort Tagebuch erwähnt, will es sich jeder gleich anschauen. Aber meins nicht – keine Chance. Die einzigen Augen, die Violas bewegtes Leben jemals zu sehen bekommen werden, sind meine!
»Ich habe keine Hobbys.« Suzanne legt ihren BlackBerry zur Seite und lässt sich auf das untere Stockbett fallen. Sie streckt die Beine aus, bis ihre Füße auf dem Fußteil des Bettes liegen. »Ich wünschte, ich hätte eines.«
»Ich würde das, was ich mache, nicht als Hobby bezeichnen. Es ist viel mehr als das. Ich arbeite darauf hin, Filmemacherin zu werden. Eines Tages will ich richtige Filme drehen und eine berümte Regisseurin sein. Wie Kurosawa.«
»Wow«, zwitschert Romy. »Wer ist das?«
»Ein japanischer Regisseur. Aber so gut wie er werde ich bestimmt nie, also vergesst lieber, was ich gesagt habe.«
»Wenn man mit vierzehn schon weiß, was man später mal machen will, muss man ein Genie sein«, sagt Suzanne.
Ich glaube, Suzanne meint wirklich, was sie sagt, oder ist es nur, weil sie so hübsch ist, dass ich jedes Wort glaube, das aus ihrem Mund kommt? »Danke«, sage ich leise.
Das Schulanfangspicknick soll den neuen Schülerinnen dabei helfen so zu tun, als hätten sie nicht ein echtes Leben zurückgelassen und als könnte so eine öde Feier automatisch alles ersetzen, was wir verloren haben. Unter einem Zeltdach sind ein paar Picknicktische mit Tischdecken in den Schulfarben aufgebaut, einem fröhlichen Gelbgrün und Weiß. Dicke Bündel grün-weißer Luftballons, die mit Steinen beschwert sind, dienen als Tischschmuck. Meine Mitbewohnerinnen und ich stellen uns am Buffet an. Wir reden nicht viel.
Und so sieht die derzeitige Punktetabelle für Traurigkeit bislang aus: Suzanne, ein bisschen traurig; Romy, begeistert und erleichtert, im Internat zu sein (vermutlich, weil in unserem Wohnheim weniger Menschen leben als bei ihr Zuhause, in dem es von Stiefeltern, Stiefgeschwistern etc nur so wimmelt); Marisol, mit Tränen in den Augen, aber doch froh, an einer akademisch anspruchsvollen Schule gelandet zu sein; und zum Schluss noch ich, unglücklich, genervt und allgemein schlecht drauf. Ich nehme einen Teller vom Stapel und folge Marisol, die Salat auf ihren Teller häuft. Das Picknickbuffet – gekochte Maiskolben, große Brötchen, Grillwürstchen und große Schüsseln mit gebratenen Rind- oder Schweinefleischstreifen – erinnert mich daran, wie sehr ich Grillen hasse und dass ich in diesem Moment tausendmal lieber in Brooklyn wäre, um bei Sung Chu Mei kalte Sesamnudeln zu bestellen und Rock Band 3 mit Andrew zu spielen.
Die Schule versucht schon jetzt, uns dazu zu bringen, alles mit lautem Hipphipphurra zu bejubeln. Auf jedem Tisch liegen Listen mit Aktivitäten, die Spaß machen sollen. Wir schlingen unser Essen hinunter und schwärmen dann aus, um dieverschiedenen Angebote zu nutzen, weil uns das was zu tun gibt und vom Nachdenken ablenkt.
Es gibt Spiele, die uns zu Teams zusammenschweißen sollen (Volleyball, Badminton, Hufeisenwerfen), oder die Möglichkeit, mit zwei altmodischen Eismaschinen (massive Edelstahlgeräte, die aussehen, als könnte man mit ihnen Leder gerben) selber Wasser- und Milcheis herzustellen (was wir fleißig tun). Zwischen dem Kurbeln und dem Eisschlürfen kommt in regelmäßigen Abständen eine Schülerin aus einer höheren Klasse mit einem Mikro auf das Podium und versucht, uns mit allen Tricks dazu zu bringen, einer Schul-AG beizutreten.
Es gibt eine Schwimmmannschaft, eine Tennismannschaft, eine Basketballmannschaft und, als Kontrast dazu, einen Freitag-Abend-Pizza-Club, für mich die einzig interessante AG hier.
Mrs. Patty Zidar, die als Tutorin der Schulanfänger vorgestellt wurde, ist in Wirklichkeit die Seelenklempnerin der Schule. Wir hatten unseren Spaß (zumindest das, was man hier dafür hält), jetzt müssen wir dafür bezahlen. Sie hält ungefähr eine Million Karteikarten in der Hand mit ihrer Rede darauf, und wir werden zuhören müssen, bis sie jede einzelne davon vorgelesen hat.
Mrs. Zidar verlässt ihren Picknicktisch, in ihrer hässlichen Karottenjeans und der weißen Bluse, die um die Taille
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