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Violett ist nicht das Ende

Violett ist nicht das Ende

Titel: Violett ist nicht das Ende Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Hueller
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zögerte.
    »Bitte steck sie nicht mehr zu den Kassenbons«, sagte Ewa. »Das ist so … so … als wäre Krümel von Penny.«
    Jule zuckte zusammen. »Spinnst du?«
    »Sorry, ist doch wahr.«
    Leider hatte Ewa recht. Unschlüssig drehte Jule die Bilder in ihren Fingern. »Ich weiß nur nicht … wohin, verstehst du?«
    Ewa legte den Kopf schräg. »Vertraust du mir?«
    »Warum fragst du?«
    »Nun sag schon. Vertraust du mir?«
    Ohne Umschweife nickte Jule.
    »Ist es okay, wenn Krümel heute bei mir bleibt? Natürlich nur, wenn du einverstanden bist. Du kannst die Bilder jederzeit zurückhaben. Du musst es nur sagen.«
    »A-Aber wa-warum?« Jule wurde heiß.
    »Babysitter-Prinzip. Du hast ihn lange genug mit dir rumgetragen, jetzt springe ich mal ein. Und ich verspreche dir, ich pass auf Krümel auf. Der bekommt einen Ehrenplatz bei mir. Ihm wird es gutgehen, und … Jule? Es würde mir echt was bedeuten.«
    »O-Okay«, rutschte es Jule über die Lippen.
    »Heißt das …«
    Wortlos schob Jule ihrer Freundin die Bilder zu. Ihre Hände zitterten. Das hier war strange, so unwirklich. Trotzdem verfolgte sie wie unter Zwang jede Bewegung von Ewa. Wie sie ganz behutsam die grisseligen Schwarz-Weiß-Abzüge in die Hand nahm. Wie ihre Fingerspitzen liebevoll darüber streichelten. Das feine Lächeln, das sich dabei in ihre Mundwinkel schlich. Fast so, als betrachtete sie versonnen ein schlafendes Baby in seinem Gitterbettchen. Jule versetzte es einen Stich. Doch irgendwie … Das Motiv brannte sich ein. Ewa zog ihrer Geldbörse hervor und klappte sie auf. Zwei transparente Einsteckfächer kamen zum Vorschein. Eines gefüllt mit Bild von Struppi, das andere mit …
    »Familienfoto?« Jule rutschte näher.
    Ewa nickte. »Darf ich vorstellen? Papa, Mama, Schwesterchen und Brüderchen. Und ich natürlich. Ey, ich guck voll bescheuert.«
    »Quatsch. Du bist süß. Nur … krass, dieser Haarschnitt.«
    »Das war modern, damals.«
    »Wo? Im Ghetto von Warschau?«
    »Jule!«
    »Sieht aber nett aus, deine Familie.« Jule wechselte schnell das Thema. »Verrückt. Eure Augen. Den Hundeblick habt ihr Kinder alle, und dieses schimmernde Braun hat definitiv euer Vater beigesteuert. Nur bei dir ist da noch dieser Tick ins Grün von …«
    »Meiner Mutter, ich weiß. Damit musst du leben.« Vergnügt stupste Ewa ihr auf die Nase, dann verstaute sie Krümel und verdeckte das Familienfoto. Wieder ein Stich, mitten ins Herz. Jule schluckte gegen Tränen an. Welche Emotionen auch immer in ihr wirbelten, es fühlte sich anders an. Anders als vorhin, anders als all die Jahre.
    Ewa strich ihr eine Haarsträhne aus der Stirn. »Ist es okay, Jule?«
    »Ich denke … schon, ja.«
    »Du kriegst Krümel selbstverständlich zurück, du musst nur …«
    »Nein. Ich glaube, ich bekomme endlich wieder … Luft.«
    Eine Menge frische Luft, genau genommen.
    »Endstation, Mädels. Wir sind wieder … ach du Scheiße!« Die Stimme von Ralf drang durch die geöffnete Limotür zu ihnen und sie fuhren herum.
    Wie, was, wo? Waren sie etwa gar nicht mehr in der Waschstraße? Ein Blick aus dem Seitenfenster genügte. Die Große Freiheit. Jule registrierte das Entsetzen im Gesicht ihres Chauffeurs, der seinen hochheiligen Limoboden betrachtete. Leere Prosecco-Dosen, verstreuter Knabberkram, ein Pfefferspray, und in jeder Ecke lag irgendwie ein Schuh.
    Er rang nach Atem. »Was habt ihr getrieben?«
    »Wir waren nicht an den Gläsern, Ralf«, beteuerte Ewa.
    »Niemand hat gekotzt«, versicherte Jule.
    »Und wir schonen die Polster. Siehst du?« Ewa präsentierte ihre Ringelsocken. Jule machte mit, mit Unschuldsmiene. Klarer Fall. Sie hatten nichts verbrochen, fand Jule. Rausschmiss, aber zackig, fand Ralf. Unter seinen rüden Kommandos rafften sie ihre Sachen zusammen und flüchteten ins Freie. Tja. Da standen sie nun, puzzelten sich wieder in die Schuhe und legten Hand in Hand. In der anderen hielten sie jeweils eine Plastiktüte von der Tankstelle, und blickten den Rücklichtern des Luxusschlittens nach.
    »Süße, und jetzt?« Jule sah zu ihrer Freundin.
    Die zuckte die Schultern. »Noch ein Absacker mit den Jungs?«
    »Mir egal.« Und das war die Wahrheit. Was spielte es für eine Rolle, was sie taten oder wo sie hingingen? Das gesamte Wochenende schusselten sie bereits wie aufgedrehte Brummkreisel umher und landeten von einem Ereignis subito im nächsten. Steuern ließ sich da nichts. Offenbar waren sie nicht bei ›Wünsch dir was‹, sondern bei ›So isses‹.

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