Violette Bescherung
Tanne. Muss ich noch singen? Jule zwang ihre Mundwinkel bis zum Anschlag. »Zufrieden?«
»Wenn Halloween wäre – ja.« Ewa seufzte. »Jule, komm. Was klemmt denn jetzt?«
»Nichts.«
»Heißt: alles. Warum, was ist los? Der Start war holprig, gut. Aber inzwischen läuft es doch.«
»Der Baum fehlt.«
»Na und? Das regeln wir auch noch. Eins nach dem anderen.« Ewa holte Eier aus dem Kühlschrank und versprühte weiter Euphorie. Die traf zielsicher Jules rebellierenden Magen. Cut. Sonst schlug der heitere Zirkus bei ihr todsicher in Brechreiz um. Ohne Kommentar streifte Jule die dusseligen Lichter ab, wirrte dabei neue Schlaufen ins Kabel … ach, Dreck ey. Sie stand fluchend auf.
»Jule, was ist?«
»Back du.«
»Äh … okay. Mach ich. Und wo gehst du jetzt hin?«
»Bett.«
Sendepause. Der Kleine döste schließlich auch in seinem Flurkörbchen. Gleiches Recht für alle. Im Schlafzimmer schmiss sich Jule rücklings auf die Matratze und zog sich die Decke über den Kopf. Perfekt. Brillant. Das Christkind konnte sie mal kreuzweise. Mäßige deine Gedanken, Schweitzer. Du bist katholisch erzogen. – Fresse, akut bin ich pissed. Alles brodelte in ihr und ihre Hände ballten sich wie von selbst zu Fäusten. Gleichzeitig ruhte ihr Körper bleischwer auf dem Laken, während Jule eisern gegen den fetten Kloß in ihrem Hals anschluckte. Teufelchen bewarf sie feixend mit Walnüssen und prostete ihr zu mit Dosenbier. Engelchen rüttelte Boxtrainer-like an ihrer Schulter und kassierte dafür einen geistigen Kinnhaken von Jule. Sorry. Engelchen zählte heute zum weihnachtlichen Personal. Ach leckt mich doch alle!
Da neigte sich die Matratze. War ja klar. Die Bogacz hatte sich eine Predigt zurechtgelegt und rüffelte gleich enttäuscht von rechts. Im Schutz der Decke nebelten Jule Tränen in die Augen. Konnten sie vorspulen? Zu irgendeiner Versöhnungsszene? Ihr Körper wappnete sich gegen den Sturm, der … äh … Sturm? Hallo? Angespannt lauschte Jule in die Stille. Nichts geschah. Ey, jetzt hockte Ewa da einfach und sagte keinen Ton? Das war ja wohl der Gipfel. Oder Mikado-Taktik. Wer zuerst wackelte, hatte verloren. Jule stellte sich tot. Nur wummerte ihr Herz immer heftiger. Verging die Zeit überhaupt? Verstrichen Minuten oder lediglich Sekunden? Gott, machte sie das mürbe.
»Okay, okay, brüll mich an«, rief sie und warf die Decke von sich. »Und ja-ja-ja, es tut mir leid.«
»Was genau?«, kam äußerst ruhig zurück.
»Na, dass ich dich gerade hängenlasse und …«
»Gut.« Ewa nahm Jule die Brille ab, ehe sie Jule wieder in die Horizontale drückte. Wortlos zuppelte sie die Decke über sie beide, schmiegte sich von hinten an und umfasste Jules Hände.
Schön. Nette Szene. Wie zwei frostgeschüttelte Eskimos lagen sie da, abgeschnitten vom Rest der Welt, umwölbt von einem iglugleichen Schutzschild aus Daunen. Sehr behaglich. Sehr verwirrend.
»Ewa, und was soll das jetzt?«, fragte Jule vorsichtig.
»Kuscheln.«
»Aha.« Jule schluckte. »Und was wird aus dem Fest?«
»Nichts.«
»Toll. Und wie erklären wir das Paulina?«
»Mir egal.«
»Von wegen. Die kleine Maus heult doch, wenn …«
»Genau.« Ewa seufzte. »Ohne Weihnachten heult Paulina. Feiern wir, heulst du. Klares Unentschieden. Warum sollte ich mir also den Arsch aufreißen? Noch dazu alleine, während du stumm daneben sitzt und eine Fresse ziehst. Ne du, das muss ich mir echt nicht geben.«
Howgh, die Bogacz hatte gesprochen. Tja. Recht hatte sie. Die Party stand und fiel mit Jule. Herrgott noch mal, ja doch! Ihre aktuelle Dreckslaune nervte Jule selbst, aber war ihre Stimmung ein Wunder nach all den Tiefschlägen des Tages? Sie war eben keine Lichterkette. Stecker in die Dose und pling, strahlte es im Raum. Auf der Bühne oder am Set gelangen ihr gefakte Gefühle, logisch, aber hier? Weihnachten war doch schon ein falsches Theater. Genügte das nicht? In Jule existierte kein Schalter, den sie nach Bedarf auf ›Festtagsfreude‹ switchen konnte. Nicht im Mai. Nicht mal im Dezember.
»Es tut mir leid«, nuschelte Jule.
»Schon okay«, sagte Ewa leise und es klang beruhigend ehrlich. »Ich check’s nur nicht.«
»Ewa, bei dieser Nummer fühle ich mich einfach so … so …« Sie brach ab. Scheu spielte sie mit Ewas Fingerspitzen und fahndete nach einem erklärenden Wort. »Überflüssig.«
»An Weihnachten?« Ewa gluckste. »Guter Witz. Da wird jede helfende Hand gebraucht und überhaupt, im Advent geht es ums
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