Violette Bescherung
Miteinander. Gemeinsames Vorbereiten. Zeit mit der Familie. Weihnachten ist ein Fest der …«
»Liebe?«, kürzte Jule spöttisch ab. »Und deshalb haben wir uns automatisch alle lieb, piep-piep, ja?«
»Äh … ja? Wieso auch nicht?«
»Pfff.« Jule buddelte sich tiefer ins Kissen. »Ewa, was feiern wir denn bitteschön unterm Strich? Happy Birthday, lieber Jesus, du bist der Beste? Ey, das juckt doch keine Sau mehr, mal ehrlich. Zum Gottesdienst quält sich jeder aus Anstand und poliert einmal im Jahr den Heiligenschein. Alles andere ist reiner Kommerz. Lebkuchen ballern sie bereits ab September raus, um möglichst viele zu verticken. In der ach so besinnlichen Adventszeit schiebst du dich durch überheizte Kaufhäuser mit Kassenschlangen bis nach Meppen. Erst kotzt du innerlich aus Frust, dann betrinkst du dich unterwegs mit Glühwein und kotzt zu Hause. Fein. Also bestellst du last minute wieder den üblichen Schrott bei Amazon. Krawatte für Papa, Parfüm für Mama. Alle Jahre wieder, juhu. Spätestens an Heiligabend liegt die komplette Familie im Clinch und zickt sich an wegen irgendeinem banalen Firlefanz oder hüllt sich in Schweigen und …«
»Echt?« Ewa hob den Kopf von Jules Schulter und drehte sie auf den Rücken. »So läuft Weihnachten in deiner Familie ab?«
»Keine Ahnung. Ruf sie an, frag nach. Hab keinen aktuellen Stand.«
Ewa schwieg einen Moment. »Sorry, ich kapier’s nicht. Hast du bei Freunden gefeiert?«
»Gar nicht.« Jule starrte in die Dunkelheit. »Bin früh ins Bett. Die letzten Jahre hatte ich immer Aufführungen auf dem Zettel, die …«
»Erzähl keinen Müll, Jule«, fiel Ewa ihr ruppig ins Wort. »Heiligabend ist spielfrei und selbst über die Festtage haben Theater meistens zu.«
»Und?« In Jules Stimme mischte sich Trotz. »Das checken meine Eltern doch nicht. Die Tochter hat Termine und ist verhindert. Ende der Mitteilung.« Themenwechsel, Schweitzer, Themenwechsel! »Wie sieht’s aus, Süße? Marzipantaler? Wir könnten …«
»Ne, Jule.« Unsanft krallte Ewa ihre Finger in Jules Shirt und nagelten sie auf dem Laken fest. »Diese Show ist scheiße, das weißt du. Hättest du deiner Familie abgesagt, offen und ehrlich – okay. Keinen Bock auf Bayern und Verwandtschaft, schön. Aber Aufführungen vortäuschen und sich drücken? Was soll der Käse? Du … Sekunde. Siehst du zum Fest deinen Ex?«
Zack. Nagel auf den Kopf getroffen und mitten ins Herz gerammt. Die alten Bilder gewannen an Schärfe. Widerstand sinnlos, Flucht unmöglich. Ewa wartete auf eine Antwort. Jule kapitulierte erneut mit langgezogenem Seufzen. »Es wäre ein Weihnachtswunder, wenn er nicht da wäre.«
»Deshalb kneifst du?« Es klang ungläubig, obendrein vorwurfsvoll, als hätte sich Jule eingenässt wegen einer Spinne. »Er hat dich damals für eine andere verlassen. Autsch, schon klar. Aber das ist nun drei Jahre her und …«
»Ewa, du verstehst das nicht.« Jule bemühte sich um eine ruhige Stimme. »Wir waren nach dem Abi fast sieben Jahre zusammen. Wir kommen beide aus der Ecke. Und jetzt wohnt er wieder in diesem piefigen Nest, wo jeder jeden kennt. Spätestens nach dem Gottesdienst scharrt sich alles um den Glühweintopf vor der Kirche, und dann steht er da drecksglücklich mit seiner Sabine und den ach so herzigen Kids, und meine Eltern stürmen sofort auf ihn zu und drücken ihn freudestrahlend nieder, während ich wie festgefroren daneben …«
»Schon mal erlebt?«
»Ne. Nicht an Weihnachten. Zum Glück.« Jule lachte auf, doch das Lachen hörte sich selbst in ihren Ohren bitter an. »Mir genügen die Szenen im Kopf. Echt jetzt. Wie sich meine Mutter in der Küche verbarrikadiert, bei ihren dreißig Kekssorten, und dort stundenlang ihre perfekte Gans begießt. Sperrgebiet. Brüderchen macht es clever. Der hängt den ganzen Tag mit Kumpels ab und lässt sich erst abends blicken. Papa schließt sich im Wohnzimmer ein und schmückt den Baum nach Schema F. Der sieht jedes Jahr gleich aus, ich schwör’s dir. Trotzdem kam immer: ›Früher war mehr Lametta.‹ Haha, der Brüller aus dem Loriot-Sketch. Das war der Running Gag von meinem Ex, pünktlich zur Bescherung, und ich wette, irgendwer bringt immer noch jedes Jahr diesen Spruch. Spätestens dann verrutscht mir mein Lächeln oder ich würge mir einen Wolf am Sauerkraut, weil mir die ganze Scheißtrennung wieder hochkocht. Pfff. Nicht mit mir.« Jule schnaufte laut.
»Erzähl deinen Eltern doch endlich, was damals wirklich
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