Violette Bescherung
starrte sie ins Nichts. Die Stille wurde unerträglich.
»Bitte sag was«, flüsterte Jule. »Bitte. Irgendwas … Schlaues.«
»Traurig und schön«, meinte Ewa leise.
»Gott, ich flenn gleich. Wham! Gib dir das. Die hockt da einsam heulend neben ihrem Baum und …«
»Ich mag Weihnachten.«
»Schon klar, Ewa. Du vielleicht. Aber es ist doch brutal, wenn …«
»Wir haben einen Brauch in Polen, weißt du?«, sagte Ewa ruhig. »Immer ein Gedeck mehr als Gäste. An Heiligabend bleibt ein Stuhl leer. Eigentlich ist er für einen unerwarteten Gast bestimmt. Ein lediger Nachbar zum Beispiel, der sonst alleine feiern müsste.«
»Äh … aha. Und der Gast taucht auf, ›Hallo, hier bin ich‹ und feiert mit, obwohl ihn niemand wirklich kennt?«
Ewa hob die Schultern. »Er könnte. Bei uns hat all die Jahre nie jemand geklingelt, aber … Dieser freie Platz, verstehst du? Irgendwer fehlt doch immer in der Runde. Letztes Jahr musste meine Schwester arbeiten und konnte nicht kommen. Meinen einen Opa kenne ich gar nicht. Der ist schon vor Urzeiten gestorben, irgendwann in den Siebzigern. Und nächstes Weihnachten? Wer weiß. Lebt Oma da noch oder …« Ewa brach ab. Tränen glitzerten in ihren Augen.
»Ssscht, Süße, ist gut«, sagte Jule schnell und nahm Ewa in den Arm.
»Es ist nur …« Ewa fixierte die Decke. »Ich verstehe dich, Jule. So wie du über Weihnachten sprichst. Ja, es ist Kommerz. Ja, es ist kitschig und stressig und religiöses Theater und was zum Kuckuck noch alles. Trotzdem bleibt es ein Fest der Familie. Natürlich knallt es zwischendrin, gehört dazu. Doch ich schwöre dir, ich bin jedes Mal so scheißefroh, dass es diese Menschen für mich gibt und wir uns wenigstens einmal im Jahr sehen, so lange es geht. Und ich mag diesen leeren Stuhl. Weil er eine Lücke ist und ein Platz zugleich, verstehst du? Ein Platz, den dir niemand nimmt, selbst wenn du eines Tages fehlst. Deshalb, ja verdammt. Ich liebe Weihnachten.« In Ewas bebende Stimme mischte sich Trotz. »Mein Hirn explodiert beinahe vor lauter Erinnerungen, die schön sind. Richtig schön. Im Kopf bin ich wieder fünf, wie Paulina, und ich verstehe die kleine Maus total. Weihnachten im Mai, jawohl. Wenn sich gerade alles Kacke anfühlt und jeder blind vor sich hinrödelt, statt sich mal Zeit zu nehmen. Zeit, verdammt noch mal! Eine Familienpause, in der dir jeder über den Kopf streichelt und sagt ›Ich hab dich lieb.‹ Und ganz ehrlich, Jule? Ich könnte dich so dermaßen schütteln, dass du dich die letzten Jahre vor deiner eigenen Familie gedrückt hast. Okay?«
»Ja.«
»Deine Eltern vermissen dich an Heiligabend. Garantiert. Und sie fehlen dir. Mach mir nichts vor. Als hättest du Spaß daran, dich irgendwo alleine mit Glühwein wegzuballern und im Bett zu verkriechen. Bockmist ist das.«
»Ja.«
»Schön.« Ewa atmete laut aus. »Hätten wir das auch geklärt. Und wenn du dich nicht zeitnah wieder auf die Bühne schwingst, um Menschen zu verzaubern mit deinem Wahnsinnstalent, trete ich dir mit Anlauf so was von in deinen verdammten Schweitzer-Schisser-Arsch. Verstanden?«
»Ja.«
»Gut.« Ewa tätschelte sich die glühend roten Wangen. »Ich muss kurz aufs Klo.«
Weg war sie. Mit schwirrendem Schädel blieb Jule zurück. Ein Anschiss mit Nachdruck. Uff. Diese Disziplin beherrschte Ewa geradezu weltmeisterlich. Was sollte Jule da noch erwidern? Weglaufen war feige und ging auf Dauer an die Substanz. Vielleicht war die Zeit tatsächlich reif für einen Neuanfang? Mit den Fingern griff sie in die Kiste, streichelte Briefe und spielte an einer Geschenkschleife. Zurück auf die Bühne. Zurück zu ihrer Familie. Immerzu schob sich ihr Ex ins Bild. So viele Jahre war er ihr Fixpunkt gewesen, Gott verdammt, was hatte sie geheult nach ihrer Trennung, unfassbar lange, weil es so wehgetan hatte. Beschissen weh. Heilte die Zeit Wunden? Oder versiegten nur die Tränen und ein Stachel blieb bohrend auf ewig? Ihre gemeinsamen Feste waren schön gewesen. Eingespielt, vertraut, als wäre Weihnachten gar nicht anders denkbar. Würden diese Erinnerungen verblassen, automatisch, sobald sie neue Bilder darüberlegte? Neue Bilder, andere Rituale. ›Papa, darf ich dir dieses Jahr beim Baumschmücken helfen? Mama, können wir nicht mal wieder zusammen Plätzchen backen?‹ Simple Sätze. Erschreckend simpel. Lag es allein an ihr? Dieses zermürbende Gefühl, überflüssig zu sein … Bildete sie sich das bloß ein? Womöglich würden zukünftige
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