Violette Bescherung
Festtage gar nicht so schlimm werden wie befürchtet. Vielleicht musste sie überhaupt kein aufgesetztes Theater spielen bei ihrer Familie, sondern nur da sein. Einfach da. Eine längliche Dose fesselte ihren Blick, während sich das Wort ›Neuanfang‹ in ihr Herz einbrannte wie eine Melodie. Bunt und schillernd.
Schnell schob Jule ihren Fund in die Hosentasche, gerade noch rechtzeitig, als die Tür aufging. Sie hangelte sich in die Senkrechte. Was auch immer die Zukunft bringen würde, nach Ewas Arschtritt musste sie jetzt guten Willen zeigen und Einsatz. ›Pro Weihnachten‹, ohne Rumgenörgel, sonst killte sie am Ende noch den Zauber für Ewa, der dieses Fest so viel bedeutete. Das durfte Jule nicht riskieren. Auf in die letzte Etappe, mit Karacho, zack-zack.
»Aufgabenteilung, Süße?« Sie klatschte in die Hände. »Ich packe die Geschenke ein, du kümmerst dich um das Essen. Anschließend dekorieren wir. Wo ist die Krippe von Tomasz? Da drin?« Sie griff sich die rote Sporttasche, stellte sie schwungvoll auf den Tisch und oh. Fieses Geräusch. Hitze loderte in Jule hoch, als sie den Reisverschluss öffnet. »E-Ewa, ich fürchte, ich hab … Shit.«
»Was? Ein Kompottglas gekillt?«
»Leider nein.«
»Sondern? Ist ein Hirte im Arsch?«
»Süße, bringt ein geköpftes Christkind Unglück?«
Samstag, 5:10 Uhr
Halleluja. Glück im Unglück. Nie hatte ein geflickter Jesus schöner gestrahlt in einer Krippe. Glitzerkleber in Pink sei Dank. Verstohlen kratzte sich Jule Kleberreste von den Fingerkuppen, ehe sie Ochs und Esel etwas mehr in die Szene rückte. Wunderbar. Die heilige Familie war startklar für das Event. Jule schloss kurz die Augen. Irgendwie drehte sich alles. Am Alkohol lag es nicht. Jeder Tropfen schien inzwischen wirkungslos verpufft in ihrer Blutbahn, durch die permanent Adrenalin rauschte. Alles in ihr funkelte golden. Waren daran die Sterne schuld, die sie im Akkord und mithilfe einer gegoogelten Anleitung zusammengestümpert hatte? Natürlich unterstützt von Bastelcoach Ewa, die jeden krummen Zacken noch mal nachjustiert hatte. Nach zwanzig Stück war Jule dennoch die Puste ausgegangen und sie hatte zu Omis Nähnadel gegriffen. Zack, rein in olle Mozartkugeln, Faden durch, Knoten hin und fertig war schimmernder Baumschmuck. Es musste ihn ja niemand essen. Nach dem gleichen Prinzip hatte Jule golden verpackte Hanuta-Tafeln einzeln mit Fäden versehen und Marshmallows auf eine Schnur gereiht. Welch schicke Girlande. Do-it-yourself-Deko vom Feinsten. Die baumelte neben Lametta von den Zweigen, über die Ewa gerade final die WG-Lichterkette wickelte. Ein Traum. Auch ihre Baumspitze konnte sich sehen lassen. Schlüsselbund-Engel Emily thronte dort im Ballettröckchen, hingebunden von Ewa wie eine Geisel an den Marterpfahl. Entzückend. Vor der Tanne stand der geklau… geborgte Schlitten, beladen mit Päckchen für Paulina. Extrem bunte Päckchen. Für das riesige Pferdeschloss hatten sie mehrere Geschenkpapierfetzen patchworkmäßig aneinander gestückelt. Not machte so verdammt erfinderisch und gewaltig Matsch in der Birne. Jule massierte sich die Schläfe und musterte immerzu das Setting. Hatten sie was vergessen? Aus dem Schuhschrank im Flur holte sie ihre hochhackigen Lederstiefel. Erst einmal fünf Paar, sie konnte ja später noch nachlegen.
»Süße, soll ich meine Schuhe gefüllt in die Ecken stellen?«
Ewa sah auf. »Macht das nicht der Nikolaus?«
»Gern. Ruf ihn an.«
»Ich meine ja nur. Theoretisch feiern wir nicht den 6. Dezember.«
»Noch so ein kleinlicher Kommentar im Mai und ich brülle, Bogacz.«
»Ich finde die Idee super, Jule. In meinem Stiefel waren früher immer Schokoladentaler, Lebkuchen und Zuckerstangen. Manchmal auch Mandarinen und Walnüsse.«
»Schön.« Jule seufzte. »Hilft mir strategisch null.«
»Was haben wir denn?«
»Äpfel. Und eben den restlichen Süßkram aus dem Supermarkt.«
»Prima.« Ewas Miene hellte sich auf. »Lass die Äpfel weg.«
»Weil sie dir nicht schmecken? Oder verwirren Vitamine deinen Körper?«
»Ich bruzzel die Dinger später zu Bratäpfeln.«
»Oh. Mir war nicht klar, dass die typisch polnisch sind.«
»Sind sie auch nicht. Ich muss nur das Menü vollkriegen.«
Jule schluckte. »Ewa, willst du wirklich zwölf Gänge kochen?«
»Tradition ist Tradition.«
»Wer soll das denn alles essen, Mensch?«
»Krysztof. Mag man nicht glauben bei seiner trainierten Figur, aber er frisst für fünf. Außerdem geht es ums
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