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Violette Bescherung

Violette Bescherung

Titel: Violette Bescherung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Hueller
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Prinzip. Je üppiger das Weihnachtsdinner, desto geiler das folgende Jahr. Wir in Polen glauben dran. Ach, hast du eine weiße Tischdecke?«
    »Nein.« Das übersteigt mein Spießerniveau dann doch.
    »Kein Ding. Dann nehmen wir den blauen Stoff aus dem Schrank.«
    »Welcher Stoff?« Jule stutzte.
    »Der mit dem Sternmuster.«
    »Das ist Bettwäsche, Ewa.«
    »Jule, wer von uns beiden wird jetzt kleinlich?«
    »Sorry, Süße. Ich hol schon.«
    Improtheater in seiner kreativsten Form. Während sich Ewa um das polnische Festmahl in der Küche kümmerte, präparierte Jule den Esstisch im Wohnzimmer. Gläser, Teller, Besteck, rote Tischsets von IKEA und Servietten für sechs Personen. Ein Kind, vier Erwachsene und ein unbekannter Gast. Herr, beehre uns nicht mit dem betrunkenen Milchbubi von oben. Oder dem Korinthenkackerdoktor oder Omi Taub von unten. Bitte überhaupt mit keinem Nachbarn. Amen. Sorry. Praktizierte Nächstenliebe war einfach nicht ihre Stärke. Aber wie hatte es Ewa so eindrucksvoll erklärt? Ein symbolischer Platz, für alle fehlenden Liebsten in der Runde. Der Gedanke versetzte Jule einen Stich. Was sie dann tat, war bekloppt. Geradezu kitsch-affig-albern. Doch sie nahm das Familienfoto vom Bücherregal aus dem Rahmen und schob es verstohlen unter das sechste Tischset. Bescheuert. Nur tat es gut. Für einen Moment sah sie das Zucken des Schnurrbarts und dann das milde Lächeln auf den Lippen ihres Vaters, ehe er ihr kurz über die Wange streichelte. ›Meine Jule-Maus‹, flüsterte er, mehr nicht, doch es genügt, und sie fällt ihm stürmisch um den Hals. Verrückt. Ein schönes Motiv aus Urzeiten, und es weckte Sehnsucht. Geklirre ließ Jule zusammenzucken. Ewa enterte den Raum, bewaffnet mit einem Tablett in ihren Händen.
    »Ui.« Interessiert glitt Jules Blick über die gefüllten Schälchen. »Zu welcher polnischen Fischsuppe essen wir denn Grissini, Süße? Äh … oder Erdnüsse, Salzstangen, Gummibärchen, Knäckebrot, Flips und Gewürzgurken?«
    »Mecker nicht.«
    »Ich frag doch nur.«
    »Sind die Gänge sechs bis zwölf.« Rums, stellte Ewa schwungvoll ihr Menü in die Tischmitte. »Ich hab echt keinen Bock mehr.«
    »Brauchst du noch Hilfe in der Küche?«
    »Nicht nötig. Die ersten Sachen sind fertig. Zauberpunsch zieht durch. Honignüsse röste ich später an und Fischstäbchen isst man ja ohnehin frisch.«
    Fischstäbchen? – Klappe, Schweitzer. Gegessen wird, was auf den Tisch kommt. Und das war spontan offenbar alles. Hauptsache fleischlos. Tja. Da hätten sie eigentlich auch ein Menü von McDonalds holen können. Ein Fisch-Burger mit elf Pommes und das ach so polnische zwölfteilige Dinner wäre angerichtet. Nun gut. Kein schlechter Gedanke. Vielleicht brauchten sie den Burger als Plan B für Vielfraß Krysztof. Jule zückte ihr iPhone.
    »Soll ich noch klassische Musik runterladen, Süße? Stille Nacht, oh Tannenbaum? Oder singen wir später selbst am Flügel?«
    »Lass uns die Singerei überspringen. Krysztof trifft keinen Ton.«
    »Dann soll er summen. Wir schmettern. Zweistimmig, Süße? Wie wär’s? Ich oben und du unten? Klavierbegleitung hab ich drauf.«
    »Ich kann die Texte nicht.«
    Jule lachte auf. »Brüller, Bogacz.«
    »War kein Witz.«
    »Äh … wie jetzt? Singt ihr zu Hause auf Polnisch oder was?«
    »Das auch. Aber ich verpatze es in jeder Sprache.«
    »Kann nicht sein. Es reimt sich doch alles. Stille Nacht, wacht, lacht. Ist Idiotensicher. Auf Schnee folgt See bei …«
    »Leise pieselt das Reh«, knurrte Ewa. »Bedank dich bei meinem Bruder. Ey, seit jeher raunt der mir Scheiße ins Ohr. Da bleib mal konzentriert. String-Tanga, stringelingeling, String-Tanga, string.«
    »Klingt auch nett. Kurze Generalprobe?«
    »Sekunde.« Ewas Blick wanderte durch den Raum, während sie am Daumen kaute. »Haben wir jetzt alles?«
    »Keine Ahnung.« Jule hob die Schultern. »Testlauf? Bescherungsszene? Husch. Ab mit dir.« Sie schob Ewa in Richtung Tür. »Du spielst fünf und ich ruf dich rein.«
    Soweit die Regieanweisungen. Kaum war Ewa raus, breitete sich Kribbeln in Jule aus. Weihnachtsfreude? Lampenfieber? Schwer zu sagen. In ihr schrie alles Showtime! Wie sie diesen Moment auf der Bühne liebte. Die letzten Augenblicke, ehe sich der Vorhang hob. Jeder huschte auf Position. Überall Gezische, nervöses Gezuppel am Kostüm. Letzte Atemübungen, ganz tief in den Bauch, während es vor ihren Augen losflirrte. Adrenalin pur. Die ersten Töne waren entscheidend, die ersten

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