Violette Bescherung
Glitzerstern drauf. Kam der zu Weihnachten?«
»Woher soll ich das wissen, Fräulein?«
»Hm. Der Stempel auf der Marke ist verwischt.«
»Kannst du wenigstens den Stern abkratzen?«
»Ne. Aber lass uns diesen Brief noch lesen und dann …«
»Ewa!«
»Und dann packen wir Geschenke ein. Okay?«
Jule stöhnte auf. Unbelehrbar, diese Bogacz. Prophylaktisch füllte Jule Wodka nach und rückte an ihrer Brille. Boah ne. So viel Text? Obendrein in krakeliger Handschrift. Wie sie es hasste. Seitenlanger Rotz samt unzähliger Rechtschreibfehler um die Kernfrage: ›Sind Sie eigentlich liiert?‹ Gerne auch ›lirt‹ geschrieben, abgerundet mit ›Sie sind soooo schöööön.‹ Als würden o’s und ö‘s in Massen sie rooollig stöööhnen lassen. Egal. Nun gut. Führte zu nichts. Über Fans konnte sie sich stundenlang aufregen ohne Ergebnis. Augen auf und durch.
Liebe Frau Schweitzer,
es fühlt sich merkwürdig an, Ihnen diese Zeilen zu schreiben.
Dann lass es doch, Herrgott.
Bestimmt erhalten Sie viele Briefe, besonders zu Weihnachten. Vermutlich werden Sie meine Nachricht nicht einmal lesen.
Leider schon, allerdings unter Protest. Grrr.
Ein trauriger Gedanke, und zugleich ist er tröstlich, denn ich werde es nie erfahren. Ich möchte Ihnen schreiben. Ich muss Ihnen schreiben. Vier Monate sind inzwischen vergangen, seit mein Mann vollkommen unerwartet starb. Ein Herzinfarkt. Ich machte gerade Frühstück, wunderte mich noch, da fand ich ihn leblos neben unserem Bett.
Wie bitte? Jule schluckte schwer.
Meine Trauer lässt sich nicht in Worte fassen. Er fehlt mir unendlich, jeden Tag, jede Sekunde. Er stand kurz vor der Pensionierung. Wir hatten noch so viele Pläne. An unserem neununddreißigsten Hochzeitstag wollten wir nach Jahren wieder ins Theater. Die Tickets hingen bereits an unserer Pinnwand. Ich habe sie gleich nach der Beerdigung weggeworfen. Mich zerriss der Gedanke, alleine in eine Vorstellung zu gehen und neben einem leeren Stuhl zu sitzen. Tags darauf brachte ich das Altpapier zum Container. Da fiel etwas zu Boden. Ich stutzte. Es war eine der beiden Konzertkarten. Zufall? Oder ein Zeichen?
Ich glaube nicht an so etwas. Ich bin nicht religiös. Trotzdem hob ich die Karte auf und ging in die Vorstellung, nachdem ich den ganzen Tag im Bett verbracht hatte. Es war entsetzlich. Nach den ersten beiden Liedern war ich drauf und dran, den Saal zu verlassen. Dann traten Sie auf die Bühne. Ich kann es schwer beschreiben. War es Ihr Lächeln? Ihre eindringliche Stimme? Sie haben mich mit Ihrem Spiel entführt. Sie brachten mich zum Lächeln, an diesem dunklen Tag, an dem mir nichts ferner lag als ein Lächeln. Beim Schlussapplaus kämpfte ich wieder mit den Tränen, da zwinkerten Sie kurz und warfen eine Kusshand ins Publikum. In meine Richtung. Es klingt absurd. Mir ist bewusst, dass es nur eine flüchtige Geste war, für niemanden bestimmt. Ein Zwinkern mit Kusshand. Es war unser kleines Ritual, ehe er ins Büro fuhr. Jeden Morgen drehte er sich auf der Türschwelle noch einmal zu mir um. Halten Sie mich ruhig für verrückt. In diesem Moment hatte ich Gänsehaut und es kam mir vor, als sagte er mir damit Lebewohl. An unserem Hochzeitstag. Wir konnten uns nicht voneinander verabschieden und es schmerzte mich tief, so tief.
Frau Schweitzer, in Ihrer kleinen Geste steckte so viel Trost und Freude. Auf einmal hatte ich ein Bild im Kopf. Dass es kein Abschied war für immer, sondern dass mein Mann irgendwo auf mich wartet. Wir sehen uns wieder. Irgendwann. Dieser Gedanke hält mich seitdem aufrecht. Besonders jetzt an Weihnachten. Das erste Jahr ohne ihn. Für mich wird es hart. Sehr hart. Gestern habe ich mir die CD von der Inszenierung gekauft, in der Sie zu hören sind. Ich werde sie mir an Heiligabend anhören und mich an den magischen Moment im Theater zurückerinnern, den ich auf immer mit Ihnen verbinden werde. Ich danke Ihnen aus tiefsten Herzen und wünsche Ihnen für Ihren weiteren Weg alles nur erdenklich Gute. Sollten Sie je wieder ein Engagement in meiner Nähe haben, werde ich im Publikum sitzen. Alleine. Mit einem Lächeln.
Schöne Weihnachten,
Angelika Bauer
Die Zeilen verschwammen von Jules Augen, als Ewa den Brief sinken ließ. Ein Kloß schwoll in ihrer Kehle an und erschwerte das Atmen. Treffer. Treffer versenkt. Heilige Scheiße. In ihr liefen sämtliche Emotionen Amok. Aufgewühlt sah sie zu Ewa, die ihre Beine anzog und den Kopf auf die Knie stützte. Mit undurchsichtiger Miene
Weitere Kostenlose Bücher