VIRALS - Nur Die Tote Kennt Die Wahrheit
einen Weg, mit so jemand fertigzuwerden.« Chance hatte sich aufgesetzt und blickte mir direkt in die Augen. Das Licht spiegelte sich in seinen dunklen Pupillen. » Du darfst keine Angst zeigen.«
» Keine Angst?« Ich legte den Kopf auf die Seite. » Das ist alles? Dein großer Ratschlag?«
Mir lagen noch andere spöttische Bemerkungen auf der Zunge, doch ich hielt sie zurück. Erneut wurde mir die Absurdität dieser Situation bewusst. Da lag jemand, der soeben aus einer psychiatrischen Klinik ausgebrochen war, neben mir auf dem Fußboden und wollte mir praktische Lebenshilfe erteilen. Die Welt war verrückt geworden.
» Leute wie Madison sind schwache, unsichere Persönlichkeiten«, fuhr Chance fort. » Die versuchen, andere zu demütigen, um von ihrer eigenen Schwäche abzulenken, aber auf einen fairen Zweikampf lassen sie sich niemals ein.«
» Ich verstehe, Herr Doktor. Also, was soll ich tun?«
» Du willst dir diese Zicken vom Hals schaffen?« Chance schlug mit der Faust in seine offene Handfläche. » Dann zeig’s ihnen! Weich nicht vor denen zurück, sondern geh selbst zum Angriff über.«
Er hatte recht. Ich konnte der sechsbeinigen Tussi nicht für alle Zeit aus dem Weg gehen. Und selbst wenn ich es könnte, würden andere Quälgeister ihre Stelle einnehmen.
Ich musste mich ihnen stellen. Mich durchsetzen.
» Keine Angst, richtig?«
Chance nickte. » Keine Angst.«
KAPITEL 47
Der Charleston Country Club bildet die Nordspitze von James Island und liegt auf der anderen Seite des Hafenbeckens, nur einen Katzensprung vom Zentrum entfernt.
Der exklusive und elegante Club gewährt seinen Mitgliedern Zugang zu eigenen Tennisplätzen, mehreren Swimmingpools und den achtzehn gepflegten Löchern einer Golfanlage.
Um zehn Uhr früh des nächsten Tages setzte mich Kit vor dem mondänen Clubhaus ab, einer Kombination aus edlen Hölzern und aufwendigen Stuckarbeiten.
Ich trug ein schulterfreies Cocktailkleid von Nicole Miller. Mochaleder. Geschmeidig und figurbetont. Und geliehen. Natürlich.
In stillschweigender Übereinkunft wechselten wir während der gesamten Fahrt kein einziges Wort.
» Zwei Stunden?« Kit trommelte mit den Fingern auf das Lenkrad, immer noch auf der Hut nach den Erschütterungen des gestrigen Abends.
» Eine«, gab ich zurück.
Er nickte. » Viel Spaß.«
Beim Aussteigen geriet ich auf dem Bürgersteig ins Stolpern. Ich hatte kaum geschlafen. Chance verstecken zu müssen, zerrte an meinen Nerven. Ebenso wie die Aussicht auf einen erneuten Zusammenstoß mit der sechsbeinigen Tussi.
Während ich mich zu sammeln versuchte, rief ich mir Chance’ Rat ins Gedächtnis.
Steh für dich ein. Weiche nicht zurück. Keine Angst.
Ich straffte die Schultern und betrat die Lobby.
Teure Perserteppiche bedeckten den dunklen Holzfußboden, über dem ein massiver Kronleuchter schwebte. Eine geschwungene Doppeltreppe führte zu beiden Seiten ins Obergeschoss. Auf einem antiken Holztischchen standen eine mit Blumen gefüllte Vase sowie ein silberner Bilderrahmen, in dessen Mitte zu lesen war, dass der Brunch unter freiem Himmel, neben dem Putting Green, serviert würde.
Neben dem Tisch stand Rodney Brincefield.
Du lieber Himmel. Was machte der denn schon wieder hier?
» Tory!« Brincefield lächelte mich strahlend an. » Was für eine schöne Überraschung.«
» Äh, hallo…« Ich fühlte mich ein wenig überrumpelt.
» Ich wusste gar nicht, dass Sie auch diesem Club angehören.« Brincefield trug einen anthrazitfarbenen Anzug und elegante schwarze Schuhe. Es war nicht zu entscheiden, ob er zum Personal gehörte, ein Gast oder Mitglied des Clubs war.
» Ich bin nur wegen des Cotillion-Brunchs gekommen«, sagte ich.
» Vorzüglich. Was macht die Schatzsuche?« Er senkte die Stimme. » Schon irgendeine heiße Spur gefunden?«
Blitzartig stand mir plötzlich das Bild eines alten roten Kombis vor Augen, der sich durch den Verkehr geschlängelt hatte und den Virals bis nach Morris Island gefolgt war.
Ich entschied mich für den direkten Weg. » Verfolgen Sie mich etwa, Mr Brincefield?«
» Sie verfolgen?« Seine leuchtend blauen Augen fixierten mich. » Warum in aller Welt sollte ich das tun?«
» Na ja… ich begegne Ihnen ständig.«
» Ich wandele seit Jahrzehnten auf denselben Spuren.« Brincefield lachte in sich hinein. » Sie sind es, die seit Kurzem in meine Welt eingedrungen sind.«
Womöglich hatte er recht. Ich war ihm tatsächlich nur an Orten begegnet, an denen ich nie
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