Virga 01 - Planet der Sonnen
die angeblich im Winter lebten.
Danach ergriff Venera das Wort, und aus irgendeinem Grund war Hayden nicht überrascht, als sich herausstellte, dass sie viele solcher Märchen kannte und sie auch gern zum Besten gab.
In einer von Veneras Erzählungen war Candesce eines Nachts auf Wanderschaft gegangen; die Sonne war hungrig geworden, nachdem sie so viele Jahrhunderte geschienen hatte, und fraß mehrere der benachbarten Prinzipalitäten, bevor ihr ein pfiffiger Bursche von einer Farm die nächste Mahlzeit ausreden konnte. Venera passte ihre Beschreibung den nächtlichen Ereignissen an: Die unsichtbare Sonne zog unter donnerndem Getöse vorbei, durch eine Himmelslandschaft voll rätselhafter Geräusche, und als sie an ihren Standort zurückkehrte und wieder schien, verriet nichts, was die Verwüstungen angerichtet hatte.
Aubri klatschte in die Hände, als die Geschichte zu Ende war. »Sie haben verborgene Talente, Venera!«
Die Frau des Admirals war geschmeichelt und betrachtete demonstrativ ihre Fingernägel. »Ja, nicht wahr?«
»Hoffentlich nehmen Sie mir die Frage nicht übel, aber ich wüsste schon die ganze Zeit gern, wie Sie Chaison überreden konnten, Sie auf diese Expedition mitzunehmen.« Aubri wirkte aufrichtig ratlos. »Während unserer Planungssitzungen schien er noch fest entschlossen, Sie zurückzulassen.«
»Ach ja«, sagte Venera lächelnd. »Das war, bevor ich mein Druckmittel einsetzte.«
»Äh … wie bitte?« Aubri und Hayden lachten nervös. Venera winkte verächtlich ab.
»Als Chaison noch Student war, verfasste er einige aufrührerische Flugschriften gegen den Piloten. Davon weiß natürlich niemand - jedenfalls niemand, der ihn verraten würde.« Sie streifte Carrier mit einem Blick, doch der verzog wie immer keine Miene. »Ich habe es von einem seiner alten Zechgenossen erfahren und ihn damit so lange erpresst, bis er zustimmte. Das ist alles.« Es klang sehr bescheiden.
Hayden musste unwillkürlich grinsen. »Chaison Fanning … hat gegen den Piloten gehetzt?«
Carrier sah Venera aufgebracht an. »Davon haben sie mir nie etwas erzählt«, sagte er.
Sie zuckte die Achseln. »Wozu auch?« Sie sah ihn verschmitzt an. »Und überhaupt sind Sie jetzt an der Reihe, Lyle. Haben Sie keine Gespenstergeschichten auf Lager?«
Carrier stammelte etwas und schlug verlegen die Augen nieder. Doch gleich darauf sah er Venera fest an und sagte: »Gespenstergeschichten sind für Kinder. Wirkliche Ereignisse sind viel beängstigender.«
Damit war eine Grenze überschritten worden, dachte Hayden, aber Venera schien es nicht bemerkt zu
haben. Sie zog eine Schnute und fragte: »Zum Beispiel?«
»Zum Beispiel «, presste er heraus, »die Geschichte eines Mannes, der feststellt, dass sein Sohn für gewisse Dinge, die zum Schutz seines Volkes nötig sind, nicht den Mut aufbringt. Stattdessen schließt er sich der Widerstandsbewegung eines besiegten Feindes an und will seinen Vater überreden, es ihm gleichzutun.«
Venera zog eine Augenbraue hoch. »Und was ist daran so schrecklich?«
Carrier holte tief Luft. »Der Vater geht darauf ein. Der Junge gewinnt schließlich das Vertrauen der Widerstandsbewegung, und er selbst vertraut natürlich seinem Vater - so sehr, dass er ihm eines Tages erzählt, an welchem Ort seine neuen Freunde eine Sonne bauen wollen. Und der Vater«, sagte er mit grimmigem Lächeln, »tut, was jeder loyale Mann tun würde. Er meldet es dem Piloten.«
Venera erkannte erst viel zu spät, wie zornig Carrier war. »Jugendlicher Überschwang«, sagte sie. »Das verwächst sich.«
»Nur, wenn man am Leben bleibt«, sagte Carrier. »Nur, wenn man überlebt.«
Aubri streckte die Hand aus, als wollte sie Carrier berühren. »Was ist mit Ihrem Sohn geschehen?«, fragte sie leise.
»Er kam um, als die Bastarde von Aerie ihre neue Sonne hochjagten«, sagte Carrier. Seine Stimme war tonlos, ohne jedes Gefühl. »Aber wissen Sie was? Wenn ich noch einmal die Wahl hätte, ich würde genauso handeln. Weil ein loyaler Bürger von Slipstream nichts gegen den Piloten, aber alles für seine Nation
tun wird.« Wieder beobachtete er bei diesen Worten Venera.
Langes betroffenes Schweigen trat ein. Aubri versuchte, die Stimmung mit einer lustigen Anekdote über ihre kurze Zeit in Rush zu retten, aber ihre Schilderung war hölzern, und niemand lachte.
Der Schaden war angerichtet; jetzt konnten sie nur noch stumm dasitzen und auf den Morgen warten. Hayden war das nur recht; er wollte sich nicht mehr
Weitere Kostenlose Bücher