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Virtuelles Licht

Virtuelles Licht

Titel: Virtuelles Licht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William Gibson
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war.
    »Ich sprang. Keine Ahnung, wer zuerst gesprungen ist, aber ich bin einfach gesprungen. Raus. Bin aufs Pflaster geknallt. Die Leute brüllten. Inzwischen hatten sie die Sperren auf der Oakland-Seite durchbrochen.
    Die waren nicht so hoch. Wir konnten ihre Lampen sehen, als sie auf den Ausleger rausrannten. Die Polizeihubschrauber und diese roten Highway—Warnfeuer, die einige von den Typen hatten. Sie liefen auf Treasure zu. Keiner mehr da draußen, seit die Jungs von der Navy abgezogen waren ... Wir rannten auch.
    Trafen uns irgendwo in der Mitte, und dann stieg dieser Jubelschrei auf ...« Skinners Blick war verschwommen, in die Ferne gerichtet. »Danach haben wir gesungen, Hymnen und so 'nen Scheiß. Sind einfach durcheinandergerannt und haben gesungen. Der reine Wahnsinn. Ich und ein paar andere, wir waren total high.
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    Und wir konnten auch die Cops sehen, die von beiden Seiten kamen. Scheiß drauf.«
    Yamasaki schluckte. »Und dann?«
    »Dann sind wir losgeklettert. Auf die Türme. Sie
    hatten Sprossen an die Scheißdinger geschweißt, weißt du, damit die Maler raufkonnten. Die sind wir hochgeklettert. Mittlerweile war das Fernsehen mit seinen eigenen Hubschraubern da, Scooter. Wir sind in die Weltnachrichten gekommen und haben nichts davon gewußt. Du auch nicht, schätze ich. Hätte uns sowieso 'n Scheiß interessiert. Wir sind bloß geklettert. Aber das ging live raus. Hat's den Cops später schwergemacht.
    Und Leute sind runtergefallen, Mann. Der Typ vor mir hatte sich schwarzes Klebeband um die Schuhe gewickelt, damit die Sohlen dranblieben. Das Band wurde feucht und ging ab, und er ist andauernd abgerutscht. Direkt vor meinem Gesicht. Sein Fuß ist immer wieder von der Sprosse gerutscht, und ich hab seine Ferse ins Auge gekriegt, aber hat mich nicht weiter gekümmert ... Als wir fast oben waren, ist er mit beiden gleichzeitig abgerutscht.« Skinner verstummte, als ob er auf ein fernes Geräusch lauschte. Yamasaki hielt den Atem an.
    »Hier oben lernst du, wie man klettert«, sagte
    Skinner. »Erstens: Schau nie nach unten. Zweitens: Laß immer eine Hand und einen Fuß an der Brücke. Dieser Typ wußte das nicht. Und seine Schuhe ... Er ist einfach 147
    rückwärts runtergefallen. Völlig lautlos. Irgendwie ...
    graziös.«
    Yamasaki erschauerte.
    »Aber ich bin weitergeklettert. Es hatte aufgehört zu regnen, und es wurde langsam hell. Ich blieb oben.«
    »Wie haben Sie sich gefühlt?« fragte Yamasaki.
    Skinner blinzelte. »Gefühlt?«
    »Was haben Sie dann getan?«
    »Ich hab die Stadt gesehen.«
     
    Yamasaki fuhr mit Skinners Lift bis zu der Stelle nach unten, wo die Treppe begann, der gelbe, aufrechte Korb wie ein Stück Picknickgeschirr, das von einem Riesen weggeworfen worden war. Überall um ihn herum jetzt die Geräuschkulisse des abendlichen Getriebes, und aus einem dunklen Torweg kamen das Klatschen von Karten, das Lachen einer Frau und laute Stimmen, die Spanisch sprachen. Der Sonnenuntergang rosarot wie Wein hinter Plastikplanen, die wie Segel flappten in einer Brise, die den Geruch von gebratenem Essen und Holzrauch sowie einen süßen, öligen Hauch von Cannabis herantrug. Jungen in ausgefranstem Leder hockten über einem Spiel mit bemalten Kieseln als Spielsteine.
    Yamasaki blieb stehen. Er stand sehr still, die Hand auf einem hölzernen Geländer, das mit Strichen aus aufgesprühtem Silber beschmiert war. Skinners Geschichte schien durch die tausenderlei Dinge, durch 148
    das ungewaschene Lächeln auf den Gesichtern und
    durch den Küchenrauch auszustrahlen wie die
    konzentrischen Ringe des Tons einer verborgenen
    Glocke, der zu tief war für das fremde, sehnsüchtige Ohr.
    Wir haben nicht nur das Ende des Jahrhunderts hinter uns gebracht, dachte er,
    die
    Jahrtausendwende, sondern wir sind auch ans Ende von etwas anderem gelangt. Einer Ära? Eines Paradigmas? Überall steht unsichtbar, ›aus und vorbei‹.
    Die Moderne ging zu Ende.
    Hier auf der Brücke war sie schon lange zu Ende.
    Er würde jetzt Richtung Oakland gehen und seine
    Fühler nach dem fremdartigen Herzen des Neuen
    ausstrecken.
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Kurierdienst
    Dienstag. Sie war einfach nicht drauf. Konnte nicht projen. Keine Konzentration. Bunny Malatesta, der Vermittler, spürte es. Seine Stimme summte in ihrem Ohr.
    »Faß das nicht falsch auf, Chev, aber hast du die Tage oder was?«
    »Du kannst mich, Bunny.«
    »He, ich mein bloß, du bist heute nicht so 'ne
    Sternschnuppe wie sonst, das 's alles.«
    »Gib mir 'n

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