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Virtuelles Licht

Virtuelles Licht

Titel: Virtuelles Licht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William Gibson
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noch als Gefangener gehockt hatte. Er fuhr mit den Fingerspitzen über die Zähne des Sägeblatts. Als er nach unten schaute, sah er eine hübsche rote Kugel. Sie lag auf dem Boden, neben seinem rechten Fuß.
    Er hob sie auf. Eine glänzende Murmel aus
    scharlachrotem Kunststoff, kühl und ein wenig
    nachgiebig. Eine der Fesseln, entweder seine oder die von Skinner.
    Er saß da, beobachtete Skinner und lauschte dem
    Ächzen der Brücke im Sturm, einer seltsamen Musik, die von den Trossenbündeln ausging. Er wollte das Ohr darandrücken, aber eine Furcht, die er nicht benennen konnte, hielt ihn davon ab.
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    Skinner wachte einmal auf, oder jedenfalls schien es so; er versuchte, sich aufzusetzen, und rief nach jemandem — nach dem Mädchen, vermutete Yamasaki.
    »Sie ist nicht da«, sagte er. Seine Hand lag auf
    Skinners Schulter. »Erinnern Sie sich nicht?«
    »War lange nicht mehr da«, sagte Skinner.
    »Zwanzig, dreißig Jahre lang. Dieses Miststück. Die Zeit.«
    »Skinner?«
    »Die Zeit. Das ist das hinterfotzigste Miststück, stimmt's?«
    Yamasaki hielt dem alten Mann die rote Kugel vor
    die Nase. »Schauen Sie, Skinner. Sehen Sie, was ist geworden?«
    »'n Superball«, sagte Skinner.
    »Skinner-san?«
    »Na los, verdammt, laß ihn springen, Scooter!« Er schloß die Augen. »Aber hoch ...!«
     
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    Die große Leere
     
    »Ich schwör's bei Gott«, sagte Nigel, »dieses
    Scheißding hat sich grade bewegt.«
    Chevette spürte mit geschlossenen Augen, wie sich der stumpfe Rücken des keramischen Messers in ihr Handgelenk grub. Es gab ein Geräusch, als ob ein Schlauch platzte, den man zu oft geflickt hatte, und dann war ihr Handgelenk frei.
    »Shit. Du lieber Himmel ...« Seine Hände waren grob und flink. Chevettes Augen öffneten sich, als es ein zweites Mal knallte, und ein rotes, verschwommenes Ding schoß zwischen dem aufgestapelten Schrott hin und her. Nigels Kopf folgte ihm wie der ausbalancierte Kopf des Gipshundes, den Skinner einmal irgendwo gefunden und ihr mitgegeben hatte, damit sie ihn unten verkaufte.
    Jede Wand in diesem kleinen Raum war mit Metall,
    auseinandergelöteten Stücken von alten Reynolds—
    Rohren und staubigen Marmeladengläsern voll rostender Speichen vollgestellt. Nigels Werkstatt, in der er Karren baute und an den kaputten Rädern rumbastelte, die man ihm brachte. Der Lachsköder, der ihm von seinem linken Ohr runterhing, tickte im Gegenrhythmus zu seinem hin-250
    und herpendelnden Kopf und kungelte, als er das Ding mitten in der Luft fing. Ein Ball aus rotem Kunststoff.
    »Mann«, sagte er beeindruckt, »wer hat dir das denn verpaßt?«
    Chevette stand auf und erschauerte. Das Zittern
    durchlief sie wie etwas Lebendiges, so, wie sich diese roten Armbänder bewegt hatten.
    Sie fühlte sich jetzt genauso wie an dem Tag, als sie zum Wohnwagen zurückgekommen war und festgestellt hatte, daß ihre Mutter ihre Sachen gepackt hatte und verschwunden war. Keine Nachricht, nur eine Dose Ravioli in einem Topf auf dem Herd, und der Dosenöffner daneben. Sie hatte diese Ravioli nicht gegessen; sie hatte seither nie wieder welche gegessen, und sie wußte, daß sie es auch nie mehr tun würde.
    Aber damals war dieses Gefühl gekommen und hatte
    alles andere verschlungen. Es war so groß, daß man eigentlich nicht beweisen konnte, daß es da war, außer durch eine Arithmetik des Nichtvorhandenseins und die Erinnerung an bessere Zeiten. Und was immer es war, sie hatte sich in dem Gefühl von einem Punkt zum anderen bewegt, bis sie hinter diesem Zaun in Beaverton gelandet war, an einem Ort, der so schlimm war, daß er wie eine Glasscherbe an der großen Leere rieb. Und dadurch hatte sie dieses Ding mehr und mehr wahrgenommen, das die Welt verschlungen hatte, obwohl es nur ganz knapp sichtbar war, und auch nur bei raschen Seitenblicken. Nicht so sehr ein Gefühl, als 251
    vielmehr eine Form von Gas, etwas, das sie fast riechen konnte, ganz hinten im Rachen, etwas das kalt und träge in den Räumen auf ihrem weiteren Weg hing.
    »Bist du okay?« Nigel, die fettigen Haare in den
    Augen, den roten Ball in der Hand, einen Cocktailsticker mit einem Sträußchen aus bernsteinfarbenem Zellophan im Mundwinkel.
    Sie hatte sich lange gefragt, ob das Fieber es nicht vielleicht weggebrannt hatte, ob es nicht zufällig den Schaltkreis in ihr durchgeschmort hatte, mit dem es gekoppelt war. Als sie sich an die Brücke, an Skinner, an die Arbeit als Botin bei Allied gewöhnt hatte, war es ihr mit der Zeit

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