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Virtuelles Licht

Virtuelles Licht

Titel: Virtuelles Licht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William Gibson
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so vorgekommen, als ob die Leere mit normalen Dingen aufgefüllt würde, als ob eine vollständig neue Welt in der Fassung der alten herangewachsen wäre und ein Tag in den anderen überginge — ob sie im Dissidenten tanzte, die ganze Nacht herumsaß und mit ihren Freundinnen redete oder eingekuschelt in ihrem Schlafsack in Skinners Bude schlief, wo der Wind die Sperrholzwände scheuerte und die Trossen summend in den Fels hinabliefen, der wie ein ganz besonders träges Meer wogte (das hatte Skinner jedenfalls gesagt).
    Jetzt war all das zerstört.
    »Vette?«
    Diese Springerin, die sie gesehen hatte, die man mit einem hellen Plastikhaken aus dem Wasser zog und die dann über dem Rand eines Schlauchboots hing, weiß und schlaff, während ihr Wasser aus Mund und Nase 252
    rann. Man brach oder verrenkte sich sämtliche
    Knochen, hatte Skinner gesagt, wenn man richtig
    aufschlug. Sie war nackt durch die Bar gerannt, war per Kopfsprung von einem der mit Touristen besetzten Tische vorne am Geländer hinausgesprungen und hatte sich dann in Harus neonbuntem Fischernetz mit den imitierten japanischen Korken verfangen. Und trieb Sammy Sal jetzt nicht genauso da unten, vielleicht bereits jenseits der Todeszone, die den Fisch in den Jahren verscheucht hatte, als dort das giftige Blei unzähliger Farbschichten angefallen war, hinaus in die Strömung, die die Toten der Brücke am Mission Rock vorbeitrug, wie es hieß, und sie zu Füßen der Reichen mit ihren Mikropore-Klamotten anspülte, die an der Betonküste des China Basin joggten?
    Chevette beugte sich vor und übergab sich. Es gelang ihr, das meiste in eine offene, leere Lackdose zu spucken, deren Rand eine dicke Schorfschicht der grauen Grundierfarbe trug, mit der Nigel seine nicht ganz einwandfreien Flickstellen ausbesserte.
    »He, he.« Nigel tanzte um sie herum, wobei er es auf seine schüchterne, bärenhafte Weise vermied, sie zu berühren; seine großen Hände hingen über ihr in der Luft. Er hatte Angst, daß sie krank sei, und fürchtete zugleich, daß sie ihm auf seine Arbeiten kotzen könnte, was ihn möglicherweise zwingen würde, sein winziges Nest doch einmal dem noch nie dagewesenen Akt einer gründlichen Reinigung zu unterziehen, statt es bloß 253
    aufzuräumen. »Wasser? Willst du Wasser?« Er hielt ihr die alte Kaffeedose hin, in der er heißes Metall ablöschte. Eine ölige Schicht schwamm darauf, wie Benzin an einem Kai, und es wäre ihr beinahe erneut hochgekommen. Statt dessen setzte sie sich hin.
    Sammy Sal tot, und Skinner vielleicht auch. Er und dieser Student, die beide dort oben mit den Kunststoffwürmern gefesselt waren.
    »Chev?« Er hatte die Kaffeedose weggestellt und bot ihr statt dessen eine offene Bierdose an. Sie winkte hustend ab.
    Nigel trat von einem Fuß auf den anderen, drehte
    sich dann um und spähte durch die dreieckige
    Plexiglasscherbe hinaus, die ihm als einziges Fenster diente. Sie vibrierte im Wind. »Ganz schöner Sturm«, sagte er, als wäre er froh, feststellen zu können, daß sich die Welt draußen überhaupt auf einem erkennbaren Kurs weiterbewegte, wie bedrohlich der auch sein mochte, »und wie das schüttet.«
    Als sie von Skinners Behausung und vor der Waffe in der Hand des Killers wegrannte, vor seinen Augen und dem Gold in den Winkeln seines Lächelns, tief gebückt, um trotz ihrer gefesselten Hände und des Etuis mit der Brille von dem Arschloch, das sie hielten, das Gleichgewicht nicht zu verlieren, hatte Chevette gesehen, daß die anderen auch alle rannten, offenbar im Wettlauf mit der einsetzenden Ruhe vor dem Sturm. Der erste Regenguß, der sie traf, war beinahe warm. Skinner 254
    würde gewußt haben, daß er kommen würde; er würde das Barometer in dem kitschigen Holzrahmen beobachtet haben, der wie das Steuerrad eines alten Bootes aussah; er kannte sein Wetter, der alte Skinner, der dort in seiner Schachtel hoch oben auf der Brücke hockte. Vielleicht wußten die anderen ebenfalls Bescheid, aber hier gehörte es zum Stil, abzuwarten und dann loszurennen; hier harrte man wegen eines letzten Verkaufs, eines weiteren Joints oder eines kleinen Geschäfts aus. Die Stunde vor einem Gewitter war gut für so was; die Leute tätigten nervöse Käufe und setzten sich dabei über die Unsicherheit hinweg, mit der sie ansonsten durchaus leben konnten. Ein paar gingen jedoch verloren, wenn das Unwetter heftig genug war, und nicht immer nur die nicht Etablierten, die Neuankömmlinge, die sich mitsamt ihrem zerlumpten

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