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Virtuelles Licht

Virtuelles Licht

Titel: Virtuelles Licht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William Gibson
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Skinner.
    Der Kunststoff riß mit einem absurd lauten Knall, wie ein Soundeffekt in einem Zeichentrickfilm für Kinder. Er war frei, und das rote Band um sein linkes Handgelenk lockerte sich einen Moment lang, als es den Rest der Masse absorbierte.
    »Scooter!«
    Es wurde enger. Er krabbelte zum Werkzeugkasten
    und sah erstaunt, daß er offen war, als Skinner ihn mit dem Absatz umstieß und hundert Werkzeugteile aus Metall auf den Boden rollen ließ.
    »Blaue Griffe!«
    Der Bolzenschneider war lang und sperrig, und seine Griffe waren mit schmierigem blauen Klebeband umwickelt. Er sah, wie das rote Band enger wurde und in seine Haut einzusinken begann. Fummelte den Bolzenschneider mit einer Hand aus dem Durcheinander, grub seine Scheren blindlings in sein Handgelenk und legte sein ganzes Gewicht auf den oberen Griff. Ein kurzer stechender Schmerz.
    Der Knall.
    Skinner stieß Luft zwischen den Lippen aus, ein
    langer, leiser Laut der Erleichterung. »Bist du okay?«
    Yamasaki schaute auf seine Handgelenke. Im linken war eine tiefe, bläuliche Furche. Sie begann zu bluten, aber nicht schlimmer, als er erwartet hätte. Das andere war von der Säge angeritzt worden. Er ließ den Blick 245
    über den Boden schweifen und suchte nach den Resten der Fessel.
    »Jetzt meine«, sagte Skinner. »Aber hak das Ding
    unter den Kunststoff, okay? Versuch, mir kein Stück Fleisch abzukneifen. Und mach die zweite schnell auf.«
    Yamasaki testete den Bolzenschneider, kniete sich hinter Skinner und schob eine Schere unter den Kunststoff am rechten Handgelenk des alten Mannes.
    Die Haut dort war durchscheinend, fleckig und verfärbt, die Venen geschwollen und kringelig. Der Kunststoff ließ sich mühelos zerschneiden; er riß mit dem gleichen absurden Geräusch und schnellte sofort zu Skinners anderem Handgelenk hinüber, wobei er sich wie etwas Lebendiges wand. Er trennte ihn durch, bevor er sich zusammenziehen konnte, aber diesmal verschwand er einfach mit dem Comic-Knall.
    Yamasaki starrte auf die Stelle, wo die Fessel
    gewesen war.
    »Katey, verriegel die Tür!« brüllte Skinner.
    »Was?«
    »Sperr die verdammte Luke zu!«
    Yamasaki krabbelte auf Händen und Knien über den
    Boden, ließ die Klappe herunter und verriegelte sie mit einem flachen Ding aus matter Bronze, das einmal zu einem Schiff gehört haben mochte. »Das Mädchen«, sagte er mit einem Blick nach hinten zu Skinner.
    »Die kann anklopfen«, sagte Skinner. »Willst du den Idioten mit der Kanone wieder hier drin haben?«
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    Das wollte Yamasaki nicht. Er schaute zur Luke in der Decke hinauf. Sie stand jetzt offen.
    »Geh rauf und schau nach dem Homo.«
    »Skinner-san? Verzeihung?«
    »Die große Schwuchtel. Der Schwarze da oben.«
    Ohne zu verstehen, wovon oder von wem Skinner
    redete, kletterte Yamasaki die Leiter hinauf. Eine Windbö trieb ihm Regen ins Gesicht, als er den Kopf durch die Öffnung steckte. Er war auf einmal zutiefst überzeugt, hoch oben auf einem alten Schiff zu sein, einem schwarzen, eisernen Schoner, der hilflos in dunkler See trieb, mit zerrissenen Plastiksegeln, einer wahnsinnigen oder toten Mannschaft und Skinner als umnachtetem Kapitän, der aus seiner Kabine unten Befehle heraufbrüllte.
    »Niemand hier, Skinner-san!«
    Der Regen stürzte in Strömen herab und verbarg die Lichter der Stadt.
    Yamasaki zog den Kopf zurück, tastete nach der
    Klappe und schloß sie über sich. Er schob den Riegel vor und wünschte, er wäre aus stärkerem Material.
    Er stieg die Leiter hinunter.
    Skinner war auf den Beinen und taumelte zu seinem Bett. »Scheiße«, sagte er, »jemand hat meinen Fernseher kaputtgemacht.« Er stürzte vornüber auf die Matratze.
    »Skinner?«
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    Yamasaki kniete neben dem Bett nieder. Skinners
    Augen waren geschlossen, sein Atem ging flach und schnell. Seine linke Hand kam hoch, und die gespreizten Finger kratzten unruhig in der verfilzten Matte weißer Haare im offenen Kragen seines abgetragenen Flanellhemds. Yamasaki bemerkte den sauren Gestank von Urin über dem beißenden Geruch des Explosivstoffs, der Loveless' Kugel herausgeschleudert hatte. Er warf einen Blick auf Skinners Jeans, auf die blaue, vom vielen Tragen ergraute Farbe, die dauerhaft eingegrabenen Knitterfalten und den schwachen, fettigen Glanz, und er sah, daß Skinner sich naßgemacht hatte.
    Er stand eine ganze Weile da und wußte nicht, was er tun sollte. Schließlich setzte er sich auf den farbfleckigen Hocker neben dem kleinen Tisch, unter dem er gerade eben

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