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Virtuelles Licht

Virtuelles Licht

Titel: Virtuelles Licht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William Gibson
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Gepäck an irgendeinem freien Platz festbanden, den sie sich in der äußeren Struktur erobert haben mochten; manchmal flog ein ganzer Abschnitt des Flickwerks einfach davon, wenn der Wind ihn richtig erfaßte; sie hatte so etwas noch nicht gesehen, aber es gab Geschichten darüber. Nichts hinderte die Neuen daran, zwischen den beiden Ebenen Zuflucht zu suchen, aber sie taten es nur selten.
    Sie wischte sich den Mund mit dem Handrücken ab
    und nahm das Bier von Nigel entgegen. Sie trank einen Schluck. Es war warm. Sie gab es ihm zurück. Er nahm den Sticker aus dem Mund, hob die Dose hoch, um 255
    einen Schluck zu trinken, überlegte es sich anders und stellte sie neben seinen Schweißbrenner.
    »Irgendwas stimmt nicht«, sagte er. »Das merke ich doch.«
    Sie massierte ihre Handgelenke. Zwei Ringe mit
    einem Ausschlag bildeten sich dort, wo der Kunststoff sie umklammert hatte. Sie nahm das keramische Messer und klappte es automatisch zu.
    »Ja«, sagte sie, »ja. Irgendwas stimmt nicht ...«
    »Was stimmt denn nicht, Chevette?« Er schüttelte
    sich die Haare aus den Augen wie ein besorgter Hund.
    Seine Finger fuhren nervös über das Werkzeug. Seine Hände waren wie blasse, schmutzige Tiere, die auf ihre stumme, agile Weise fähig waren, Probleme zu lösen, die ihn selbst hoffnungslos überfordert hätten. »Dieser Japsenscheiß ist dir zu Bruch gegangen«, entschied er, »und jetzt bist voll genervt ...«
    »Nein«, sagte sie, ohne ihm richtig zuzuhören.
    »Für 'n Botenrad braucht man Stahl. Gewicht, 'n
    großen Korb vorne dran. Keine Pappe mit beknacktem Aramidscheiß drumrum, die ungefähr so viel wiegt wie 'n Sandwich. Was ist, wenn du mit 'nem B-bus zusammenstößt? Wenn du dem hinten reinfährst? Du
    hast mehr M-masse als das Rad, du knallst vorn rüber und b-brichst dir ... brichst dir den ...« Seine Hände verschlangen sich, als er sich den Ablauf des Unfalls, den er vor sich sah, genauer auszumalen versuchte.
    Chevette blickte auf und sah, daß er zitterte.
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    »Nigel«, sagte sie und stand auf, »das Ding hat mir jemand nur so zum Spaß verpaßt, verstehst du?«
    »Es hat sich bewegt«, sagte er. »Das hab ich gesehen.«
    »Naja, war kein so guter Spaß, okay? Aber ich
    wußte, wohin ich gehen mußte. Zu dir, stimmt's? Und du hast es abgemacht.«
    Nigel schüttelte sich die Haare wieder in die Augen, schüchtern und erfreut. »Du hast dieses Messer gehabt.
    Schneidet gut.« Dann runzelte er die Stirn. »Du brauchst
    'n Stahlmesser ...«
    »Ich weiß«, sagte sie. »Ich muß jetzt los.« Sie bückte sich, um die Lackdose aufzuheben. »Ich werf das weg.
    Tut mir leid.«
    »Es gibt 'n Gewitter«, sagte Nigel. »Geh lieber nicht raus.«
    »Ich muß«, sagte sie. »Ich schaff's schon.« Sie dachte daran, daß er Nigel ebenfalls töten würde, wenn er sie hier fand. Er würde ihm weh tun. Ihm Angst machen.
    »Ich hab sie abgeschnitten.« Er hielt den roten Ball hoch.
    »Sieh zu, daß du das los wirst«, sagte sie.
    »Warum?«
    »Schau dir diesen Ausschlag an.«
    Nigel ließ den Ball fallen, als ob er Gift wäre. Er hüpfte außer Sicht. Nigel wischte sich die Finger an der dreckigen Brust seines TShirts ab.
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    »Nigel, hast du 'nen Schraubenzieher, den du mir
    geben kannst? Einen für Kreuzschrauben?«
    »Meine sind alle abgenutzt ...« Die weißen Tiere
    liefen über eine Unmenge von Werkzeugen, froh, etwas jagen zu können, während Nigel sie ernst beobachtete.
    »Ich werf die Kreuzschrauben immer weg, sobald ich sie raushabe. Sechskantschrauben sind am besten ...«
    »Ich will einen haben, der ganz abgenutzt ist.«
    Die rechte Hand stieß nieder, und kam mit ihrer
    Beute hoch, die einen schwarzen Griff hatte und leicht verbogen war.
    »Der ist gut«, sagte sie und machte den
    Reißverschluß von Skinners Jacke auf.
    Beide Hände hielten ihn ihr hin. Nigels Augen
    verbargen sich hinter seinen Haaren und betrachteten sie. »Ich ... mag dich, Chevette.«
    »Ich weiß«, sagte sie mit der Lackdose voll Kotze in der einen und dem Schraubenzieher in der anderen Hand. »Ich weiß.«
     
    Abgelenkt von dem Flickwerk aus Kunststoff, das
    die obere Ebene überdachte, folgte der Regen
    Abwasserleitungen und Stromkabeln, die oben in den merkwürdigsten Winkeln austraten, und sammelte sich zu willkürlichen Wasserfällen, Miniatur-Niagaras, die von Wellblech und Sperrholz herabstürzten. Vom Eingang zu Nigels Werkstatt aus sah Chevette eine Markise zusammenbrechen; Massen silbernen Wassers 258
    ergossen sich

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