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Virtuelles Licht

Virtuelles Licht

Titel: Virtuelles Licht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William Gibson
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mit einem Schlag aus einer straffen Höhlung, einer prallvollen Segeltuchwanne, die mit einem scharfen Knacken nachgab und sich sofort in etliche Meter flatternden, patschnassen Stoff verwandelte.
    Nichts hier war in einem umfassenderen Sinn geplant, und mit Drainageproblemen befaßte man sich, wenn sie auftraten. Oder vielmehr, man ließ es eher bleiben.
    Die meisten Lichter waren aus, wie sie sah, aber das konnte daran liegen, daß die Leute sie ausgemacht hatten, daß sie so viele Stecker wie möglich rausgezogen hatten. Doch dann sah sie gerade eben noch den äußersten Rand des unheimlichen pinkfarbenen Blitzes, den es gab, wenn ein Transformator durchbrannte, und sie hörte den lauten Knall. Draußen, Richtung Treasure.
    Das war das Ende für die meisten noch verbliebenen Lichter, und plötzlich stand sie nahezu im Dunkeln. Kein Mensch war zu sehen, absolut niemand. Nur eine Hundert-Watt-Birne in einer orangefarbenen
    Plastikfassung, die im Wind hin-und herschaukelte.
    Sie ging in die Mitte der Ebene hinaus und versuchte, auf heruntergefallene Kabel zu achten. Sie erinnerte sich an die Dose in ihrer Hand und warf sie zur Seite, hörte, wie sie aufschlug und ein Stück rollte.
    Sie dachte an ihr Rad, das mit leeren Kondensatoren im Regen lag. Jemand würde es garantiert klauen, und das von Sammy Sal auch. Es war das Tollste und Wertvollste, was sie je besessen hatte, und sie hatte sich jeden Dollar, den sie bei City Wheels auf den Tresen 259
    gelegt hatte, selber verdient. Sie sah das Rad nicht als ein Ding, sondern eher so, wie die Leute ihrer Meinung nach Pferde betrachteten. Es gab Kuriere, die ihren Fahrrädern Namen gaben, aber das hätte Chevette nie getan, und zwar irgendwie gerade deshalb nicht, weil das Rad für sie wirklich etwas Lebendiges war.
    Proj, sagte sie zu sich selbst, die kriegen dich, wenn du hierbleibst. Sie kehrte San Francisco den Rücken und machte sich auf den Weg Richtung Treasure.
    Wer, die? Der mit der Knarre. Der wegen der Brille gekommen war. Er war wegen der Brille gekommen und hatte Sammy getötet. War er von den Leuten geschickt, die Bunny und Wilson, den Eigentümer, angerufen hatten? Privatcops. Sicherheitsbullen.
    Das Etui in ihrer Tasche. Glatt. Und dieser
    unheimliche Trickfilm von der Stadt, diese Türme, die oben breiter wurden. Wie Sonnenblumen.
    Sunflower.
    »Lieber Gott«, sagte sie, »wohin? Wo soll ich bloß hin?«
    Nach Treasure, wo die Wolfsmenschen und die
    Todesfreaks herumstrichen, die bösartigen Irren, die von der Brücke verjagt worden waren und jetzt die Wälder da drüben unsicher machten? Sei früher mal eine Navy-Basis gewesen, sagte Skinner, aber kurz nach dem Little Grande hätte eine Seuche allem ein Ende gemacht, eine Seuche, die die Augen in Matsch verwandelte, und dann fielen einem die Zähne aus. Das Treasure-Island-Fieber, 260
    vielleicht irgendwas, das auf dem Navy-Gelände nach dem Erdbeben aus einem Kanister entwichen war.
    Deshalb ging da jetzt keiner mehr hin, jedenfalls kein normaler Mensch. Manchmal sah man nachts ihre Feuer und bei Tag den Rauch, und man ging schnurstracks zum Oaklandbogen hinüber, zu dem Ausleger, aber die Leute, die dort lebten, waren eigentlich nicht die gleichen wie die Leute hier auf der Hängebrücke.
    Oder sollte sie umkehren und versuchen, ihr Fahrrad zu holen? Eine Stunde Fahrt, dann wären die Bremsen wieder geladen. Sie sah sich einfach nur fahren, vielleicht nach Osten, immer tiefer hinein, in das Land dort, wie es auch sein mochte — Wüsten, wie man sie im Fernsehen sah, dann flache, große Farmen, wo große Maschinen in Reih und Glied angerollt kamen und ihre Arbeit verrichteten. Aber dann fiel ihr die Straße von Oregon hierher wieder ein, die Trucks, die in der Nacht vorbeizogen, knurrend wie tollwütige Tiere, die sich verirrt hatten, und sie stellte sich vor, wie es wäre, diese Straße entlangzufahren. Nein, auf einer Straße wie der war kein Platz, nichts, was menschliche Dimensionen hatte, und kaum je auch nur ein Licht in all den Feldern der Dunkelheit. Dort konnte man endlos weit laufen, immer weiter, ohne je irgendwohin zu gelangen, nicht mal an einen Ort, wo man sich hinsetzen konnte. Mit einem Rad würde sie da draußen nirgends hinkommen.
    261
    Oder sie konnte zu Skinner zurück. Sie konnte
    hinaufklettern und nachschauen ... Nein. Diesem
    Gedanken schob sie sofort einen Riegel vor.
    Die Leere stieg aus den regengepeitschten Schatten auf wie ein Gas, und sie hielt die Luft an, um sie nicht

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