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Virtuelles Licht

Virtuelles Licht

Titel: Virtuelles Licht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William Gibson
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einzuatmen.
    So war das, wenn man Dinge verlor — es war, als
    ob man dann zum ersten Mal bemerkte, daß man sie
    vorher gehabt hatte. Die Mutter mußte sich aus dem Staub machen, damit man merkte, daß sie überhaupt dagewesen war, denn sonst war sie dieser Ort, einfach alles, wie das Wetter. Und Skinner und der Coleman-Kocher und das Öl, das sie in das kleine Loch gießen mußte, damit die Lederdichtung weich blieb und die Pumpe arbeitete. Man wachte nicht jeden Morgen auf und sagte ja und ja zu jedem kleinen Ding. Aber alles bestand aus solchen kleinen Dingen. Allein schon, jemanden zu sehen, wenn man aufwachte. Oder Lowell.
    Als sie Lowell gehabt hatte — falls man das so sagen konnte, obwohl sie vermutete, daß es eigentlich nicht zutraf —, aber als er dagewesen war, war er ein bißchen so was gewesen ...
    »Chev? Bist du das?«
    Und da war er. Lowell. Saß im Schneidersitz auf
    einem rostigen Kühlapparat mit dem Schriftzug
    SHRIMP vorne drauf, rauchte eine Zigarette und sah zu, wie der Regen von der Markise des Shrimpmanns triefte. Sie hatte ihn seit drei Wochen nicht mehr 262
    gesehen, und das einzige, woran sie denken konnte, war, daß sie wirklich total beschissen aussehen mußte.
    Dieser kleine Skinhead, den sie Codes nannten, saß neben ihm, die schwarze Kapuze eines Sweatshirts auf dem Kopf und die Hände in den langen Ärmeln verborgen. Codes hatte sie noch nie leiden können.
    Aber Lowell grinste um die Glut seiner Zigarette
    herum. »Na«, meinte er, »sagst du nun ›hallo‹, oder was?«
    »Hallo«, sagte Chevette.
    263

Kognitive Dissidenten
    Rydell glaubte nicht so recht an die ganze
    Brückengeschichte, und noch weniger daran, was
    Freddie im Lebensmittelmarkt und auf dem Rückweg
    von North Beach zu dem Thema zu sagen gehabt hatte.
    Ihm fiel immer wieder die Dokumentation ein, die er in Knoxville gesehen hatte, und er war ziemlich sicher, daß darin kein Wort über Kannibalen und Sekten gefallen war. Er dachte, daß Freddie ihm das einreden wollte, weil er — Rydell — derjenige war, der dort hinausgehen und dieses Mädchen holen sollte, diese Chevette Washington.
    Und jetzt, wo er tatsächlich draußen auf der Brücke war und beobachtete, wie die Leute in aller Eile ihre Sachen vor dem Unwetter in Sicherheit brachten, hatte sie noch weniger Ähnlichkeit mit Freddies Horrorgeschichten. Sie sah aus wie ein Rummelplatz oder so. Oder wie die Mittelstraße eines Jahrmarkts, nur daß sie auf der oberen Ebene von verrückten kleinen Hütten — nichts weiter als Schachteln — und ganzen 264
    Hauscaravans überdacht war, die in die Aufhängung hochgezogen und dort mit großen Klebstoffklumpen angepappt waren, wie Heuschrecken in einem
    Spinnennetz. Zwischen den beiden ursprünglichen
    Ebenen konnte man durch Löcher auf-und absteigen, die sie in die obere Ebene geschnitten hatten. Darunter waren alle möglichen Arten von Treppen eingebaut, aus Sperrholz und aus geschweißtem Stahl, und unter einem Durchlaß sah er sogar eine alte Flugzeug-Gangway, die einfach mit platten Reifen da rumstand.
    Auf der unteren Ebene kam man zunächst an einem
    Haufen Imbißwagen vorbei, dann waren da
    hauptsächlich Bars, die kleinsten, die Rydell je gesehen hatte; in manchen gab es nur vier Hocker und nicht mal eine Tür, sondern nur einen großen Rolladen, den man runterziehen und abschließen konnte.
    Aber nichts von alledem basierte auf irgendeinem
    Plan; jedenfalls nicht, soweit er sah. Anders als in einem Einkaufszentrum, wo man ein Geschäft in eine kleine Lücke quetschte und abwartete, ob es ging oder nicht.
    Dieser Ort hier sah aus, als ob er einfach gewachsen wäre — eins war ans andere geklebt worden, bis der ganze Brückenbogen von dieser formlosen, kunterbunten Masse umhüllt war, und keine zwei Stücke paßten zusammen. Wohin man auch schaute, immer sah man andere Materialien, und keines wurde seinem ursprünglichen Verwendungszweck entsprechend
    benutzt. Er kam an Ständen mit Fassaden aus türkisem 265
    Resopal, falschem Mauerwerk und Scherben
    zerbrochener Kacheln vorbei, die zu Strudeln,
    Sonneneruptionen und Blumen angeordnet waren. Ein bereits geschlossener Laden war mit grünen und kupferfarbenen Leerplatinen tapeziert.
    Er ertappte sich dabei, wie er über all das grinste, auch über die Leute, die ihm nicht die geringste Aufmerksamkeit schenkten, weder kannibalistisch noch sonst. Sie schienen genauso wild zusammengewürfelt zu sein wie ihre Baumaterialien: alle Altersstufen, Rassen und

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