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Virtuelles Licht

Virtuelles Licht

Titel: Virtuelles Licht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William Gibson
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Hautfarben, und alle rannten sie vor dem Unwetter davon, das jetzt ganz eindeutig im Anzug war; der Wind frischte auf, als Rydell sich zwischen Karren und alten Damen hindurchschlängelte, die Strohkoffer schleppten.
    Ein kleiner Junge, der mit einem großen roten
    Feuerlöscher in den Armen dahinstolperte, lief ihm gegen die Beine. Rydell hatte noch nie ein Kind mit solchen Tätowierungen gesehen. Der Junge sagte etwas in einer anderen Sprache und war dann verschwunden.
    Rydell blieb stehen und holte Warbabys Karte aus
    seiner Jackentasche. Sie zeigte, wo das Mädchen
    wohnte und wie man da raufkam. Ganz oben auf dem
    Dach von dem verdammten Ding, in einer kleinen Hütte auf der Spitze eines der Türme, von denen die Kabel runtergingen. Warbaby hatte eine schöne Handschrift, richtig anmutig, und er hatte die Karte im Fond des Patriot gezeichnet und für Rydell beschriftet. Die 266
    Treppe, dann ging man den Steg entlang und nahm einen Lift oder so was ähnliches.
    Es würde aber ein hartes Stück Arbeit sein, diese erste Treppe zu finden, denn als er sich jetzt umschaute, sah er zahllose schmale, kleine Treppen, die sich zwischen Ständen und verschlossenen Winzig-Bars aufwärts wanden, und zwar ohne jedes System. Er vermutete, daß sie allesamt in das gleiche Rattennest hinaufführten, aber es gab keine Garantie, daß sie alle miteinander verbunden waren.
    Dann übermannte ihn die Erschöpfung, und er wollte nur noch wissen, wo und wann er schlafen konnte, und worum ging es überhaupt bei diesem ganzen Quatsch?
    In was hatte er sich da von Hernandez reinziehen lassen?
    In diesem Moment schlug der Regen zu, der Wind
    steigerte seine Geschwindigkeit um ein paar Knoten, und die Bewohner der Brücke gingen nun wirklich in Deckung und überließen Rydell, der sich in der Lücke zwischen ein paar altmodischen japanischen Automaten zusammenkauerte, seinem Schicksal. Die Gesamtkonstruktion, wenn man es so nennen konnte, war so porös, daß sie jede Menge Regen hereinließ, aber auch so groß und schwerfällig, daß ihr der Wind ernsthaft zu schaffen machte. Das ganze Ding begann zu knarren, zu knacken und irgendwie zu stöhnen. Und immer mehr Lichter gingen aus.
    Er sah weiße Funken stieben, und ein Leitungskabel kam aus dem wahnwitzigen Durcheinander herunter.
    267
    Jemand brüllte etwas, aber die Worte wurden vom
    Wind weggerissen, und er konnte sie nicht verstehen. Er schaute nach unten und sah Wasser um seine Kampfstiefel hochsteigen. Nicht gut, dachte er; Pfützen, nasse Schuhe, Wechselstrom.
    Neben dem einen Automaten war ein Obststand, aus
    erbeutetem Holz zusammengehauen wie eine
    Kinderfestung — doch er stand auf einer Art Podest, das fünfzehn Zentimeter hoch war, und dort sah es trocken aus. Rydell kauerte sich auf das Podest und nahm die Füße aus dem Wasser. Es roch nach überreifen Mandarinen, aber es war weitgehend trocken, und der Automat hielt den meisten Wind ab.
    Er zog seine Jacke so weit zu, wie es ging, schob die Fäuste in die Taschen und dachte an ein heißes Bad und ein trockenes Bett. Er dachte an seinen Futon-Mouth-Futon unten in Mar Vista und bekam tatsächlich Heimweh. Herrgott, dachte er, demnächst vermisse ich auch noch diese Blumenaufkleber.
    Eine Segeltuchmarkise kam herunter. Ihre
    Holzstützen knickten wie Zahnstocher, und sie schüttete Unmengen Regenwasser aus. Und genau in diesem Augenblick sah er sie, Chevette Washington, direkt da draußen vor seinen Augen. Er glaubte zu träumen. Keine sechs Meter entfernt. Sie stand einfach so da.
    Damals, als sein Vater nach Florida gezogen und
    krank geworden war, hatte Rydell dort eine Freundin gehabt, wenn man es so nennen konnte. Ihr Name war 268
    Claudia Marsalis, sie war aus Boston, und ihre Mutter hatte ihr Wohnmobil auf dem gleichen Platz stehen gehabt wie Rydells Vater, ganz in der Nähe der Bucht von Tampa. Rydell war gerade im ersten Jahr auf der Akademie, kriegte aber ab und zu Urlaub, und sein Vater wußte, wie man günstig an Flugtickets rankam.
    Also flog Rydell im Urlaub runter und wohnte bei
    seinem Vater, und abends traf er sich manchmal mit Claudia Marsalis und fuhr mit ihr im '94er Lincoln ihrer Mutter MM, der Claudia zufolge kirschrot gewesen war, als sie ihn hergebracht hatten; aber jetzt begann sich das Salz allmählich bemerkbar zu machen. In Boston war sie offenbar nur im Sommer gefahren, damit die Chemikalien den Schlitten nicht zerfraßen. Er hatte diese blauweißen MASS-HERITAGE-Schilder dran, weil er ein

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