Virtuelles Licht
Jahrhunderts die Aufmerksamkeit der AIDS-310
Industrie auf sich gezogen. Er war einunddreißig Jahre alt, ein Stricher und seit zwölf Jahren HIV-positiv. Zum Zeitpunkt seiner ›Entdeckung‹ durch Dr. Kim Kutnik in Atlanta, Georgia, saß Shapely gerade eine zweihundertfünfzigtägige Haftstrafe wegen Aufforderung zur Unzucht ab. (Die Tatsache, daß er HIV-positiv war, was automatisch, zu erheblich schwereren Anklagen geführt hätte, war anscheinend ›übersehen‹ worden.) Frau Kutnik, eine Forscherin der Sharman-Gruppe, einer amerikanischen Filiale von Shibata Pharmaceuticals, sichtete medizinische Daten aus
Gefängnissen auf der Suche nach Personen, die seit mehr als einem Jahrzehnt HIV-positiv waren, jedoch keine Krankheitssymptome aufwiesen und eine
vollständig normale (oder, wie in Shapelys Fall, über der Norm liegende) T-Zellen-Zahl hatten.
Einer der Forschungsansätze der Sharman-Gruppe
richtete sich auf die Möglichkeit, mutierte HIV-Arten zu isolieren. Mit dem Argument, daß Viren den Gesetzen der natürlichen Auslese gehorchten, hatten mehrere Sharman-Biologen die These vertreten, das HIV-Virus in seiner damals aktuellen genetischen Form sei übermäßig tödlich. Wenn es sich unkontrolliert
ausbreiten könne, argumentierte das Sharman-Team, müsse ein Virus, das eine Letalität von 100 Prozent aufweise, schließlich zur Ausrottung seines
Wirtsorganismus' führen. (Andere Sharman-Forscher konterten mit dem Verweis auf die lange Inkubationszeit, 311
die zum Überleben der Wirtspopulation beitrüge.) Die BBC-Autoren legten großen Wert darauf,
klarzumachen, daß die Idee, nicht pathogene HIV-Arten zwecks Überwältigung und Neutralisierung letaler Arten aufzuspüren, bereits eine Dekade früher aufs Tapet gebracht worden sei, daß die ›ethischen‹ Implikationen des Experimentierens mit menschlichen Versuchspersonen die Forschung jedoch behindert
hätten. Die zentrale Beobachtung der Sharman-Forscher datierte von dieser Vorarbeit her: Das Virus möchte überleben, was es nicht kann, wenn es seinen Wirt tötet.
Die Mitglieder des Sharman-Teams, zu dem Dr. Kutnik gehörte, wollten nun HIV-positiven Patienten das Blut von Personen injizieren, die ihrer Ansicht nach mit nicht pathogenen Arten des Virus infiziert waren. Sie hielten es für möglich, daß die nicht pathogene Art den Sieg über die letale Art davontragen würde. Kim Kutnik war eine von sieben Forschern, denen man die Aufgabe übertragen hatte, HIV-positive Personen ausfindig zu machen, die möglicherweise eine nicht pathogene Art in sich trugen. Sie entschied sich dafür, ihre Suche in einem Datensektor zu beginnen, der gegenwärtige Insassen staatlicher Gefängnisse umfaßte, die a) anscheinend bei guter Gesundheit waren und b) deren letzter HIV-Test mindestens ein Jahrzehnt zurücklag. Ihr erster Suchlauf brachte Sechsundsechzig Personen zutage — darunter J.
D. Shapely.
312
Yamasaki sah zu, wie Kutnik, gespielt von einer
jungen britischen Schauspielerin, sich auf einer Terrasse in Rio an ihre erste Begegnung mit J. D. Shapely
erinnerte. »Ich war verblüfft von der Tatsache, daß seine T-Zellen-Zahl an diesem Tag über 1200 lag, und daß seine Antworten in dem Fragebogen darauf hinzudeuten schienen, daß ›safer Sex‹, wie wir es damals nannten, nicht gerade sein ... äh ... Hauptanliegen war. Er war ein sehr offener, sehr kontaktfreudiger, ja, eigentlich ein sehr unschuldiger Mensch, und als ich ihn im Besuchsraum dieses Gefängnisses nach oralem Sex fragte, wurde er doch tatsächlich rot. Dann lachte er und sagte ... nun, er sagte, er würde ›Schwänze lutschen, als ob es demnächst aus der Mode kommen würde‹ ...« Die Film-Kutnik lachte, als ob sie selbst gleich erröten würde.
»Natürlich wußten wir zu dieser Zeit eigentlich noch nichts Genaues über die Infektionsträger der Krankheit«, fuhr sie fort, »denn — so grotesk das heute zu sein scheint — die präzisen Formen der Übertragung waren nie richtig erforscht worden ...«
Yamasaki schaltete das Gerät aus. Dr. Kutnik würde Shapelys Entlassung aus dem Gefängnis als Freiwilliger der AIDS-Forschung nach dem Bundesgesetz
arrangieren. Das Projekt der Sharman-Gruppe würde von fundamentalistischen Christen behindert werden, die etwas dagegen hatten, daß todkranken AIDS-Patienten
›HIV-belastetes‹ Blut injiziert wurde. Nach der
Einstellung des Projekts würde Kutnik klinische Daten 313
entdecken, die darauf hindeuteten, daß ungeschützter Sex
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