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Virtuelles Licht

Virtuelles Licht

Titel: Virtuelles Licht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William Gibson
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zum ersten Mal zu sehen und schaffte es gerade noch, seinen Laptop mit beiden 303
    Händen hochzubringen. Der Schraubenzieher ging
    mittendurch. Freddie jaulte auf und ließ den Laptop los.
    Rydell ergriff die offene Handschelle, die um sein Handgelenk gelegen hatte, und zog einfach dran.
    Er machte die Beifahrertür des Patriot auf und zerrte sie mit hinein. Als er auf den Fahrersitz rutschte, hatte er einen direkten Blick auf den Langhaarigen, der Swobodows blutiges Gesicht in die Haube knallte, und auf die ganzen rostigen Schrotteile, die dabei jedesmal hochsprangen.
    Schlüssel. Zündung.
    Rydell sah, wie Chevette Washingtons Telefon und
    das Etui mit der VL-Brille aus Swobodows
    kugelsicherer Weste fielen. Er ließ das Fenster runter und langte nach den Sachen. Jemand schoß den Langhaarigen von Swobodow runter, plopp, plopp,
    plopp, und Rydell knallte den Rückwärtsgang rein und sah, wie der Mann aus dem Polizeiwagen mit beiden Händen eine kleine Pistole herumschwenkte. Genauso, wie sie es einem bei SSS beibrachten. Das Heck des Patriot krachte irgendwo gegen, und Swobodow flog in einer Wolke rostiger Ketten und Rohrstücke von der Kühlerhaube. Chevette Washington versuchte, durch die Beifahrertür auszusteigen; deshalb mußte er die Handschelle festhalten, das Lenkrad mit einer Hand herumwirbeln, sie lange genug loslassen, um den Vorwärtsgang einzulegen, aufs Gas zu treten, und sie dann wieder packen. Die Beifahrertür flog zu, als er 304
    direkt auf den Mann mit dem breiten Lächeln losfuhr, der vielleicht noch einen Schuß abgeben konnte, bevor er schnell aus dem Weg springen mußte.
    Der Patriot schleuderte in einer Pfütze, die ein paar Zentimeter tief war, und schlitterte knapp am Heck eines großen, orangeroten Müllwagens vorbei, der dort vor einem Gebäude abgestellt war.
    Er fing dieses eine verrückte Bild im Rückspiegel am Armaturenbrett auf, durch die Heckscheibe: die Brücke, die dort hinten wie in Algen gehüllt aufragte, der Himmel, der jetzt hinter ihr grau wurde, und Warbaby, der einen steifbeinigen Schritt tat, dann noch einen, den Stock an die Schulter hob, ihn waagrecht nach vorn streckte und auf den Patriot richtete, als war er ein Zauberstab oder so was.
    Dann sprengte das, was aus dem Ende von
    Warbabys Stock kam, die Heckscheibe des Patriot
    raus, und Rydell bog so scharf nach rechts ab, daß sie beinahe umkippten.
    »Gütiger Gott«, sagte Chevette Washington wie
    jemand, der im Schlaf spricht, »was tust du da?«
    Er wußte es nicht, aber hatte er's nicht grade spontan getan?
    305

Das Lied des Mittelpfeilers
    Als die Lichter ausgingen, tastete Yamasaki im
    Dunkeln nach seiner Tasche. Er fand sie und kramte darin nach seiner Taschenlampe.
    Im grellen Lichtstrahl lag Skinner mit offenem Mund unter den Decken und einem zerlumpten Schlafsack und schlief.
    Yamasaki suchte die Borde über dem Tischbrett ab: kleine Gewürzgläser, identische Gläser mit
    Stahlschrauben drin, ein uraltes Bakelittelefon mit Wählscheibe, das ihn daran erinnerte, woher der
    Ausdruck ›eine Nummer wählen‹ kam, Klebeband in
    vielen verschiedenen Arten und Farben, Rollen dicken Kupferdrahts, Stücke von etwas, das er für Tauwerk hielt, und schließlich ein Bündel verstaubter
    Kerzenstummel, die mit einem verrottenden Gummiband zusammengebunden waren. Er suchte sich den längsten Stummel aus und fand ein Feuerzeug neben dem grünen Campingkocher. Er stellte die Kerze senkrecht auf eine 306
    weiße Untertasse und zündete sie an. Die Flamme
    flackerte und erlosch.
    Mit der Taschenlampe in der Hand ging er zum
    Fenster und zog es fester in seinen tiefen, runden Rahmen.
    Diesmal blieb die Kerze an, obwohl die Flamme in
    Luftzügen, deren Herkunft zu lokalisieren ein
    hoffnungsloses Unterfangen sein würde, pulsierte und anschwoll. Er trat wieder ans Fenster und sah hinaus.
    Die verdunkelte Brücke war unsichtbar. Regen trieb fast waagrecht gegen das Fenster, und winzige Tröpfchen erreichten durch Sprünge im Glas und durch korrodierte Teile der Bleifassung sein Gesicht.
    Ihm kam der Gedanke, daß man aus Skinners Bude
    eine Camera obscura machen könnte. Wenn man die
    kleine, zentrale Bullaugenscheibe des Kirchenfensters herausnahm und die anderen Scheiben abdeckte, würde ein auf dem Kopf stehendes Bild an die
    gegenüberliegende Wand geworfen werden.
    Yamasaki wußte, daß der Mittelpfeiler, die zentrale Verankerung der Brücke, früher einmal als eine der größten Lochkameras der Welt gegolten hatte.

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