Virtuelles Licht
er den Skateboardmann nirgends mehr sehen.
»Schau nach unten«, sagte Chevette Washington.
»Schau nicht hoch, wenn sie vorbeifahren, sonst bringen sie uns um ...«
Rydell konzentrierte sich auf die Spitzen seiner
schwarzen Stiefel. »Hängst du viel mit Autodieben rum?«
»Geh weiter und halt die Klappe. Nicht hinschauen.«
Er hörte, wie der Patriot aus der Gasse rollte,
herankam und im Schrittempo neben ihnen herfuhr.
Seine Stiefelspitzen machten bei jedem Schritt kleine, quatschende Geräusche — und wenn nun das letzte, was man vor seinem Tod mitbekam, eine solch erbärmliche Unannehmlichkeit war wie die Tatsache, daß man nasse Schuhe und Strümpfe hatte und sie nie mehr würde wechseln können?
Rydell hörte, wie der Patriot davonfuhr, während der Fahrer mit der ungewohnten amerikanischen Schaltung kämpfte. Er begann, den Blick zu heben.
»Nicht«, sagte sie.
»Sind das Freunde von dir, oder was?«
»Gassenpiraten, wie Lowell sie nennt.«
»Wer ist Lowell?«
»Du hast ihn im Dissidenten gesehen.«
»In dieser Bar?«
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»Keine Bar. 'ne Finte.«
»Da gibt's Alkohol«, sagte Rydell.
»'ne Finte. Wo man abhängt.«
»Wer ist ›man‹? Dieser Lowell, hängt der da ab?«
»Ja.«
»Du auch?«
»Nein«, sagte sie wütend.
»Ist das dein Freund, dieser Lowell? Dein Lover?«
»Du hast gesagt, du bist kein Cop. Du redest aber wie einer.«
»Bin ich aber nicht«, sagte er. »Kannst sie ja fragen.«
»Er 's bloß jemand, den ich von früher kenne«, sagte sie.
»Na schön.«
Sie warf einen Blick auf den Samsonite. »Hast du da drin 'ne Kanone oder so?«
»Trockene Strümpfe. Unterwäsche.«
Sie schaute zu ihm hinauf. »Ich versteh dich nicht.«
»Brauchst du auch nicht«, sagte er. »Gehen wir hier bloß so spazieren, oder hast du vielleicht irgend 'ne Idee, wo wir hinkönnen? Zum Beispiel von der Straße runter?«
»Wir wollen uns 'n paar Schnappschüsse
anschauen«, sagte sie zu dem fetten Mann. Er hatte ein paar Dinger an den Brustwarzen hängen, die wie Sicherheitsschlösser aussahen. Zogen ihn da irgendwie runter, und Rydell konnte einfach nicht hinschauen. Er 323
trug eine ausgebeulte weiße Hose, deren Schritt ihm in den Kniekehlen hing, und eine kleine blaue Samtweste, die überall mit Gold bestickt war. Er war groß und weich und fett und über und über mit Tätowierungen bedeckt.
Rydells Onkel, der mit dem Militär nach Afrika
gegangen und nicht zurückgekommen war, hatte ein paar Tätowierungen gehabt. Die beste zog sich über seinen ganzen Rücken, ein großer, spiralförmiger Drache mit Hörnern und einem irgendwie dämlichen Grinsen. Den hatte er sich in Korea verpassen lassen, acht Farben, und alles war von einem Computer gemacht worden. Er hatte Rydell erzählt, wie der Computer seinen Rücken vermessen und ihm genau gezeigt hatte, wie es aussehen würde, wenn es fertig war. Dann hatte er auf diesem Tisch liegen müssen, während der Roboter die Tätowierung anbrachte. In Rydells Vorstellung hatte der Roboter gewisse Ähnlichkeit mit einem Staubsauger gehabt, nur daß er verdrehte Chromarme besaß, die in Nadeln endeten. Aber sein Onkel sagte, es sei eher so, als ob man durch einen Nadeldrucker gezogen würde, und er hätte achtmal durchgemußt, einmal für jede Farbe. Es war aber ein großer Drache, und viel bunter als die Tätowierungen auf den Armen seines Onkels, weißköpfige Seeadler mit ausgebreiteten Schwingen wie im Staatswappen und ein Harley-Schriftzug. Wenn sein Onkel im Garten mit Rydells Hanteln trainierte, konnte 324
Rydell zusehen, wie sich der Drache wellenförmig
bewegte.
Dieser fette, glatzköpfige Typ mit den Gewichten an den Brustwarzen hatte überall Tätowierungen, außer an den Händen und am Kopf. Es sah aus, als hätte er einen Anzug an. Sie waren ganz anders, keine Wappenadler oder Harley-Schriftzüge, und sie liefen irgendwie ineinander. Rydell wurde beinahe schwindlig vom Hinsehen, deshalb schaute er zur Wand hinauf, die mit weiteren Tätowierungen bedeckt war, wohl Beispiele, aus denen man sich was aussuchen konnte.
»Du warst doch schon mal hier«, sagte der Mann.
»Ja«, erwiderte Chevette Washington, »mit Lowell.
Erinnerst du dich an Lowell?«
Der fette Mann zuckte die Achseln.
»Mein Freund und ich«, sagte sie, »wir wollen uns was aussuchen ...«
»Deinen Freund hab ich noch nie gesehen«, sagte der fette Mann mit vollendeter Höflichkeit, aber Rydell konnte die Frage in seiner Stimme hören. Sein Blick ruhte auf
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