Virulent
Keine Kohäsion. Wusste sie, was dieses Wort bedeutete? Ja, das wusste sie.
Chelsea blinzelte und öffnete die Augen. Dünne Strahlen frühen Morgenlichts strömten durch die Risse im Dach und die mit Brettern vernagelten Fenster herein. Sie fühlte sich schläfrig. Und traurig.
Ihr ganz besonderer Freund war verschwunden.
Sie brauchte Chaunceys Weisheit, sie musste wissen, was Gott von ihr wollte. Sie spürte den Geist der Soldaten, der
Nestlinge, der Verwandelten. Sie alle waren sehr ruhig. Zufällige Gedanken … sie träumten. Es gab niemanden, der sie alle vereinte.
Denn genau das hatte Chauncey getan. Er hatte sie eins werden lassen.
Leise wuchs ein Verdacht in ihr. Was wäre, wenn sie alle vereinen konnte? Sie könnte Chauncey ersetzen.
Er war Gott gewesen, aber es gab ihn nicht mehr.
Jetzt war Chelsea Gott.
Sie spürte all die Soldaten, Mommy, Mr. Burkle, den Briefträger, General Odgen … sie spürte die beiden Nestlinge in Gaylord … und sie spürte eine weitere Stimme, eine neue Stimme, sehr leise, sehr schwach, und doch auch sehr nahe.
Die beiden Nestlinge in Gaylord waren noch immer Gefangene.
Gefangene des Schwarzen Mannes.
Chauncey hatte ihr gesagt, sie solle den Schwarzen Mann in Ruhe lassen. Chauncey hatte sie blockiert, aber nun war da kein Chauncey mehr.
Und außerdem gab es niemanden, der Chelsea sagen durfte, was sie zu tun hatte. Sie hatte keine Angst vor dem Schwarzen Mann. Gott sollte sich vor niemandem fürchten.
Konnte sie den Schwarzen Mann blockieren, wie Chauncey das mit ihr getan hatte? Vielleicht, aber es würde einige Zeit dauern, bis sie gelernt hatte, wie. Sie würde experimentieren müssen. Wenn sie ihn nicht schnell genug blockieren konnte, würde der Schwarze Mann sie angreifen.
Es sei denn, sie griff ihn zuerst an.
Sie rief General Odgen. Es war Zeit, seine Planung für alle Eventualitäten in die Tat umzusetzen – nur für den Fall, dass der Schwarze Mann ihr entwischte.
103
Perry hört wieder
Ich werde dich umbringen.
Es begann als eine Art geistiges Kitzeln oder Klingeln im Kopf. Etwas Schwaches. Zuerst wäre es ihm am liebsten gewesen, wenn es einfach verschwunden wäre. Er wollte nur noch schlafen.
Du wirst schreien … und schreien …
Das Klingeln wurde lauter. Er hörte eine Stimme, doch er verstand nicht, was sie sagte. Was er jedoch verstand, war, dass er einen schrecklichen Kater hatte. Heiliger Gott, tat das weh.
… und schreien.
Perry setzte sich auf und versuchte, sich den Schlaf aus den Augen zu reiben. Bei dieser Bewegung erklang ein metallisches Geräusch. Das Bett fühlte sich wacklig an. Er hielt sich mit beiden Händen den Kopf, als er sich umsah. Er war überhaupt nicht in einem Bett. Er lag auf einer Autopsietrage im Untersuchungsraum. Wollte da jemand Sinn für Humor beweisen? Naja, irgendwie war es ja wirklich witzig.
Das Kitzeln im Kopf wurde immer stärker. Mit einem flauen Gefühl im Magen erkannte er, worum es sich handelte.
Chelsea.
Hast du Angst?
Sie war stärker geworden. Er schnappte mehrmals hintereinander nach Luft. Er hatte Angst.
Ich werde dich holen, Schwarzer Mann. Vielleicht werde ich dich dazu bringen, dass du dich selbst erschießt …
Fuck. Fuck-fuck-fuck.
Perrys Hand schoss an seine Hüfte zu seinem Pistolenhalfter. Die .45er war da. Seine Finger umschlossen den kühlen Griff. Er zog die Waffe nicht, er hielt sie einfach nur fest.
Schon bald, Schwarzer Mann …
Nie zuvor hatte er sie so deutlich gespürt. Diese Intensität schockierte ihn. Es fühlte sich so an, als sei selbst ihre kleinste Empfindung die wichtigste Sache der Welt. Und doch lag hinter dieser Intensität eine merkwürdige Leere – das Gefühl, dass sie weder gut noch böse war.
Chelsea wusste nicht, was Gut und Böse waren. Sie würde tun, was immer sie tun wollte, ohne Reue und ohne Gewissen.
Baaaaald …
Perry musste sie finden. Er musste sie finden und ihr helfen.
Er sprang von der Trage und rannte los, um Dew zu suchen.
104
Appetit auf McDonald’s
Der Gefreite Alan Roark parkte den Hummer auf dem Seitenstreifen des North Chrysler Drive und sprang aus dem Wagen. Auch der Gefreite Peter Braat, der die Landkarte hatte, stieg aus. Die beiden gingen zum Heck des Wagens und betrachteten die riesige Überführung.
»Fuck«, sagte Peter. »Da sind jede Menge Straßen.«
Alan nickte. Da waren wirklich jede Menge Straßen.
Zu ihrer Rechten führten drei Spuren der I-75 in Richtung Norden und direkt daneben drei weitere Spuren in
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