Virus (German Edition)
Über die dritte Posaune hinaus hatte er bislang nie etwas erzählt.
„Der vierte Engel blies
seine Posaune” ,
begann Holger erneut zu zitieren. „Da wurde ein Drittel der Sonne und ein
Drittel des Mondes und ein Drittel der Sterne getroffen, so dass sie ein
Drittel ihrer Leuchtkraft verloren und der Tag um ein Drittel dunkler wurde und
ebenso die Nacht.”
Er machte eine kurze Pause, um
seinen beiden Zuhörerinnen Gelegenheit zu geben, sich einzuprägen, was er
gesagt hatte. Dann fuhr er fort. „Der fünfte Engel blies seine Posaune. Da
sah ich einen Stern, der vom Himmel auf die Erde gefallen war: Ihm wurde der
Schlüssel zu dem Schacht gegeben, der in den Abgrund führt. Und er öffnete den
Schacht des Abgrunds. Da stieg Rauch aus dem Schacht auf, wie aus einem großen
Ofen, und Sonne und Luft wurden verfinstert durch den Rauch aus dem Schacht.
Aus dem Rauch kamen Heuschrecken über die Erde, und ihnen wurde Kraft gegeben,
wie sie Skorpione auf der Erde haben. Es wurde ihnen gesagt, sie sollten dem
Gras auf der Erde, den grünen Pflanzen und den Bäumen keinen Schaden zufügen,
sondern nur den Menschen, die das Siegel Gottes nicht auf der Stirn haben.”
Erneut machte Holger eine Pause,
bevor er die sechste apokalyptische Posaune zitierte. „Der sechste Engel
blies seine Posaune: Da hörte ich eine Stimme, die von den vier Hörnern des
goldenen Altars her kam, der vor Gott steht. Die Stimme sagte zu dem sechsten
Engel, der die Posaune hält: Binde die vier Engel los, die am großen Strom, am
Euphrat gefesselt sind. Da wurden die vier Engel losgebunden, die auf Jahr und Monat,
auf Tag und Stunde bereitstanden, um ein Drittel der Menschheit zu töten. Und
die Zahl der Reiter dieses Heeres war vieltausendmal tausend; diese Zahl hörte
ich.”
Holger blickte in die Gesichter
seiner Zuhörerinnen. Sie wirkten ein wenig überfordert mit der Flut an
Informationen, noch dazu in einem nicht ganz zeitgemäßen Deutsch. Sie bedurften
offenbar nähergehender Einlassungen und Holger beschloss, systematisch
vorzugehen.
„Wir sollten einen Schritt nach
dem anderen machen”, lenkte er die Aufmerksamkeit wieder auf sich. „Im Moment
brauchen wir uns wohl nur mit der vierten Posaune zu beschäftigen. Mit ein
wenig Glück reichen uns die Hinweise zur Vereitelung der nächsten Tat. Wenn wir
dabei den Mörder sogar fassen können, sind die restlichen Posaunen sowieso
bedeutungslos.”
Hoffnung schlich sich auf
Herforths müdes, überarbeitetes Gesicht, und ein wenig Farbe kletterte in die
Blässe, die das grelle, weiße Licht, das die Neonröhren von der Decke warfen,
ihr verlieh. „Sie wissen, wann und wo der Mörder wieder zuschlagen wird?”
„Noch nicht”, gab Holger zu.
„Aber wenn wir die Bibelstelle gemeinsam analysieren, können wir vielleicht…”
„ Hold on ”, rief Debbie
plötzlich dazwischen. Auch ihre Stimme barg Hoffnung. „Du hast nur gesagt, dass
Tag und Nacht um ein Drittel dunkler werden. Bedeutet das, dass bei dieser
Posaune überhaupt gar kein Mensch zu Schaden kommt?”
Holger wand sich. Auch er hatte
sich diese Frage gestellt, doch er fürchtete, seine Antwort würde nicht allzu
verlockend ausfallen.
„Ich fürchte, darauf sollten wir
nicht bauen”, erwiderte er. „Die ersten vier Posaunenvisionen bilden eine
Gruppe, die durch den berühmten Weheruf eines Adlers von den restlichen drei
Posaunenvisionen abgegrenzt sind. ‚Wehe den Bewohnern der Erde!’ ruft
der Adler vor der fünften Posaune, denn eigentlich treffen die ersten vier
Posaunen allesamt nicht direkt die Menschheit, sondern Elemente der Natur. Bei
der ersten Posaune verbrennt Feuer, das vom Himmel fällt, Land, Bäume und Gras,
bei der zweiten Posaune stirbt ein Drittel der Geschöpfe des Meeres und bei der
dritten Posaune wird das Wasser der Flüsse und Quellen bitter. Allesamt sind
keine direkten Schläge gegen die Menschen, doch das scheint unseren Mörder
bislang nicht beeindruckt zu haben. Ich kann mir also kaum vorstellen, dass er
bei der vierten Posaune plötzlich eine Ausnahme machen wird.”
Wieder kehrte eine Art
hoffnungslose Stille ein. Holger leerte seine Kaffeetasse, dann fuhr er fort.
„Wir sollten also von einem Mord ausgehen. Die vierte Posaune verursacht
Dunkelheit. Der einzige Schluss, den ich daraus ziehen kann, ist der, dass der
nächste Mord nachts verübt werden wird.”
„Das könnte sein”, erwiderte
Herforth gedankenverloren.
„Haben Sie eine andere
Interpretation?” fragte Holger
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