Virus (German Edition)
eine
Demonstration Linker in Rom statt. Im Umkreis der Demo war die Stadt wie
ausgestorben. Die Leute waren entweder auf der Kundgebung oder hielten sich aus
Angst vor Ausschreitungen fern von ihr. Wir aber haben nichts von der Demo gewusst
– schließlich waren wir nur zu Besuch. Die Straßen waren für Autos gesperrt,
aber auch das haben wir nicht gesehen, weil wir zu Fuß unterwegs waren. Natürlich
haben wir uns gewundert, warum die Stadt so leer war, einzig wir haben uns keine
weiteren Gedanken darüber gemacht. Kannst du dir das vorstellen? Rom, die
vielleicht pulsierendste Metropole auf Erden, verwandelt sich auf einmal in eine
Geisterstadt, die heilige Stadt wirkt plötzlich gottverlassen, und wir machen
uns keine Gedanken darüber.”
Holgers Stimme klang
vorwurfsvoll, vorwurfsvoll gegen sich selbst. Er machte eine Pause. Debbie
blickte ihn an, doch er starrte nur mit gesenktem Blick auf den Dünensand.
Seine Gesichtszüge hatten sich verhärtet. Waren es vielleicht auch die
Selbstvorwürfe gewesen, vor denen er sich in seiner Festung aus
Gleichgültigkeit zu schützen versucht hatte? Wer ließ sich schon gerne Vorwürfe
machen? Noch dazu von sich selbst.
Holger holte tief Luft und Debbie
glaubte, ein leichtes Zittern in seiner Atmung zu hören. Dann setzte er erneut
an.
„Es war ein schöner Tag, das weiß
ich noch. Obwohl es schon Juni war, war es nicht zu heiß und ein leichter Wind
ging. Ich erinnere mich an diesen Tag, als wäre es gestern gewesen.”
Debbie stellte fest, dass er der
Wahrheit damit vielleicht näher kam, als er dachte. Dadurch, dass er sich so
aus dem Leben zurückgezogen hatte, war der Tag von Natalias Tod sozusagen der
letzte Tag seines Lebens gewesen – aus heutiger Sicht eine Art gestern.
„Wir schlenderten durch ein
menschenleeres Gässchen”, fuhr Holger mit leicht vibrierender Stimme fort, „als
plötzlich eine Gruppe Radikaler auf der Flucht vor der Polizei um eine
Häuserecke sprintete. Einer der Autonomen hat Natalia einfach über den Haufen
gerannt. Einfach so. Keine Absicht, keine Vorsicht, keine Rücksicht, ciao.”
Plötzlich hielt Holger an und
setzte sich in den Sand der Düne. Die Art, wie seine Beine einfach einknickten,
ließ Debbie vermuten, dass seine Knie nachgegeben hatten, ihn nicht mehr länger
hatten tragen wollen. Holger legte die Arme um seine angezogenen Unterschenkel
und starrte in die Dunkelheit. Debbie setzte sich neben ihn.
Eine Weile herrschte Stille.
Offenbar kostete ihn jedes Wort Überwindung. Er schien mit den Tränen zu
ringen. Lass sie laufen, dachte Debbie. Lass sie einfach laufen.
Doch dann fuhr Holger mit gefasster
Stimme fort. „Natalia schlug mit dem Kopf auf das Pflaster auf. Das Geräusch,
als ihr Schädel die Straße traf, werde ich nie vergessen. Erst ein dumpfer
Aufprall, dann dieses schreckliche Knirschen, als das Scheitelbein nachgab. Sofort
bildete sich eine riesige Blutlache. Ich hatte noch nie in meinem Leben so viel
Blut gesehen. So schrecklich viel Blut. Natalia war sofort bewusstlos. Die
Demonstranten sind einfach weiter gerannt. Keine Absicht, ciao. Eine junge Frau
unter ihnen hat kurz innegehalten, als wolle sie helfen. Ich weiß noch, dass
sie übel zugerichtet aussah. Die Autonomen mussten sich eine Straßenschlacht
mit der Polizei geliefert haben. Die Frau stand ein paar Sekunden lang
unentschlossen da, doch dann sind die Polizisten um die Ecke gekommen und auch
sie ist geflohen.
Keiner der Polizisten hat uns
auch nur die geringste Beachtung geschenkt. Die Verfolgung der Radikalen war
ihnen wichtiger als Natalias Leben. Alles, was die Beamten zustande gebracht
hatten, war, die einzige Person, die uns helfen wollte, zu verjagen.”
„Es tut mir so leid, Holger”,
sagte Debbie leise. Holger blickte sie an.
„Kannst du jetzt nachvollziehen,
warum ich Autonome und Polizisten hasse?” fragte er mit fester, zorniger
Stimme. Debbie nickte.
„Niemand half uns”, fuhr Holger
fort. „In der vermeintlichen Stadt Gottes hatte keiner die Christlichkeit, auch
nur einen Krankenwagen zu rufen. Ich werde nie diese Hilflosigkeit vergessen,
diese absolute Hilflosigkeit. Von Tür zu Tür bin ich gerannt, habe Klingel über
Klingel gedrückt, habe an Fenster geklopft, habe nach Hilfe gerufen, aber aus
Angst vor Ausschreitungen hatte jeder sich in seinem Haus verbarrikadiert oder
die Stadt verlassen oder sie wollten mir einfach nicht helfen. Ich weiß es
nicht. Ich weiß nur, dass mir niemand geholfen hat. Niemand. Die
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