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Virus (German Edition)

Virus (German Edition)

Titel: Virus (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kristian Isringhaus
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Stadt war wie
ausgestorben. Selbst Gaststätten hatten aus Angst um ihr Interieur geschlossen.
Dann habe ich eine Kirche an einer kleinen Piazza gesehen. Ich habe mit beiden
Fäusten an die Tür zum Haus Gottes gehämmert. Doch auch er war nicht da.”
    Wieder machte Holger eine lange
Pause. Debbie fragte sich, ob dies der Moment gewesen war, in dem Holger seinen
Glauben an Gott verloren hatte, ob dieses spezielle Ereignis den Verlust seiner
Religiosität ausgelöst hatte, oder ob er in späteren Reflektionen zu seinem
Schluss gelangt war.
    Schließlich fuhr er fort.
„Irgendwann habe ich Natalia in all meiner Verzweiflung auf den Arm genommen
und sie getragen. Völlig ziellos bin ich durch die leeren Straßen geirrt, immer
wieder um Hilfe schreiend. Nach einer Ewigkeit, nach einer verdammten Ewigkeit,
bin ich schließlich zufällig in die Nähe der Kundgebung gekommen. Ich habe
meine Arme schon nicht mehr gespürt, aber es hätte nichts geben können, was
mich in dem Moment weniger interessiert hätte. Ich hätte Natalia bis ans Ende
der Welt getragen, wenn es hätte sein müssen. Am Rand der Kundgebung waren dann
Rettungskräfte. Aber es war zu spät.”
    Holger schluckte schwer und
hörbar.
    „Im Krankenwagen hat Natalia noch
einmal kurz das Bewusstsein erlangt. ‚Warum lässt er das zu?’ waren ihre
letzten Worte. Später sagte man mir, man hätte sie wahrscheinlich retten
können, wenn Hilfe schneller gekommen wäre. Doch zu diesem Zeitpunkt war der
Blutverlust einfach zu groß gewesen. Wahrscheinlich hätte Natalia überlebt,
wenn jemand die Christlichkeit gehabt hätte, uns zu helfen. Unsere ungeborene
Tochter hätte man in jedem Falle retten können. So habe ich beide verloren.”
    Debbie wusste nicht, was sie
sagen sollte. Etwas Traurigeres hatte sie noch nie gehört. Sie legte ihren Arm
um Holgers Schulter und zog seinen Kopf zu sich. In dem Moment, da sein Kopf
ihre Schulter berührte, begann er bitterlich zu weinen. Endlich. Schmerz, Hass,
Verdrängung und Leid von fast zwei Jahren entluden sich in einem Weinkrampf.
    Der erste Schritt war getan.
Debbie drehte sich leicht zu ihm, legte auch ihren anderen Arm um ihn und
streichelte seinen Hinterkopf. Zu sagen gab es für sie in diesem Moment nichts.
Alles, was sie tun musste, um ihm jetzt zu helfen, war, ihn weinen zu lassen.

61.
    Dora erreichte das Zelt um kurz
vor elf. Weil sie keine Lust auf weitere Diskussionen mit ihrem betrunkenen
Freund hatte, hatte sie sicher gehen wollen, dass Passe schlief, wenn sie
zurückkehrte. Daher war sie trotz ihrer tiefen Abneigung gegen die Kneipe und
ihr Konzept noch ein wenig im ‚Dorfkrug’ geblieben, um dann langsamen Schritts
in Richtung des Zeltplatzes zurück zu schlendern.
    Sie hoffte inständig, dass Passe
fest schlief, als sie in dem Bemühen, so wenige Geräusche wie möglich zu
produzieren, den Reißverschluss des Zelts aufzog. Doch es war seltsam still im
Zelt. Passe schnarchte normalerweise, wenn er getrunken hatte, doch selbst wenn
nicht, hätte sie zumindest seine Atmung hören müssen. Sie tastete in der
Dunkelheit nach seinem Schlafsack. Er wirkte leer. Dann fühlte sie nach der
Taschenlampe, die die beiden stets am Eingang zum Zelt deponierten. Vergeblich.
Die Taschenlampe war verschwunden und mit ihr Passe.
    Dora zog ihr Handy aus der
Hosentasche und wählte seine Nummer, doch entweder hatte er kein Netz, wo auch
immer er sich gerade aufhielt, oder sein Handy war ausgeschaltet.
    Wo konnte er nur sein? Dora
begann, sich Sorgen zu machen, wenn auch nicht um Passes Wohlbefinden. Viel
mehr machte sie sich Sorgen, er könne etwas Unüberlegtes tun, eine Dummheit
begehen. Es würde zu ihm passen.

62.
    Die beiden Projektile des Tasers
trafen Personenschützer Georg Jäger in einem Abstand von etwas mehr als zehn
Zentimetern in seinen rechten Oberschenkel und sein Gesäß. Der Mann, der
weniger als zehn Meter entfernt im Schutz des Dünengrases kauerte, nahm an,
dass Jäger eine kugelsichere Weste trug, und hatte sich dementsprechend für die
untere Körperhälfte entschieden. Zudem war es nahezu ausgeschlossen, dass die
Impulse hier tödlich wirkten. Immerhin wollte er Jäger lediglich ausschalten
und nicht töten.
    Er sah, wie der BKA-Mann sich
reflexartig an den Oberschenkel griff, und versetzte ihm augenblicklich über
die Drähte, die die Projektile mit der Elektroschockpistole verbanden, eine
ausdauernde Serie von Stromschlägen, die sicherstellte, dass Jäger sein
Bewusstsein verlor. Lautlos

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