Virus (German Edition)
verleihen, erhob er sich und blickte nun auf die
weitaus kleinere Herforth herab. Sie genoss es, ihn so zappeln zu sehen,
zwischen übergroßem Ego und würgender Angst.
„Dafür habe ich leider nicht die
Zeit”, erwiderte sie cool.
„Wieso sollte Herr Bruncke mich
suspendieren?” fragte Wegmann, nun offenkundig unsicher.
„Lassen Sie mich nachdenken.”
Herforth legte so viel Sarkasmus in ihre Stimme, wie sie nur konnte. „Da wäre
zum Beispiel die nicht autorisierte Weitergabe von Ermittlungsständen an eine
ausländische Behörde, das Zurückhalten von Ermittlungsständen gegenüber der
eigenen Vorgesetzten und die gezielte Sabotage der Ermittlungen im
wahrscheinlich wichtigsten Fall der deutschen Kriminalgeschichte. Um nur ein
paar Ihrer nachgerade unglaublichen Eskapaden zu nennen.”
„Sie können mir nichts beweisen.”
Nervosität lag nun in Wegmanns Stimme.
„Kann ich nicht? Dann will ich
Ihnen mal was sagen: Die Suspendierung ist nur der Anfang. Sie werden sich
wegen jedes Einzelnen Ihrer Vergehen verantworten müssen.”
„Sie haben keine Beweise”,
wiederholte Wegmann mit nun offenkundiger Angst in seinem Tonfall.
„Ich glaube kaum, dass Herr
Bruncke die Suspendierung in die Wege geleitet hätte, wenn ich ihm keine
stichhaltigen Beweise vorgelegt hätte”, erwiderte Herforth, während sie zur Tür
ging und diese öffnete. „Viel Spaß beim Packen, Wegmann.”
Damit verließ sie sein Büro
wieder und schloss die Tür. Für einen kurzen Moment erlaubte sie sich, ihren
Triumph zu genießen. Dann wischte sie alle Gedanken an Wegmann aus ihrem Kopf
und machte sich auf den Weg, sich von ihren Kollegen über deren
Ermittlungsstände informieren zu lassen. Ein Problem weniger. Endlich konnte
sie sich voll und ganz auf den Fall konzentrieren und musste sich keine Sorge
mehr machen, dabei gezielt und aus den eigenen Reihen behindert zu werden.
116.
Holger merkte, dass Debbies
Stimmung immer bedrückter wurde, einzig er wusste nicht, was er tun konnte, um
ihr Mut zu machen. Schließlich begann auch sein eigener Mut, ihn zu verlassen.
Vor einer halben Stunde hatte
Debbie ihr Telefonat mit Bobby beendet. Seitdem waren sie wieder und wieder
sämtliche Implikationen aller Morde durchgegangen auf der verzweifelten Suche
nach einem Zeichen. Sie hatten sich die Umstände in Erinnerung gerufen, die
Mordarten, die Tatorte, die Herkunftsländer der Opfer, ihr Alter. Nirgendwo
schien sich ein Zeichen zu verstecken. Mit der steigenden Verzweiflung wurden
ihre Theorien mehr und mehr abwegig und unwahrscheinlich – und das davon
ausgehend, dass sie von Beginn an nicht eine einzige realistische Theorie
hatten aufstellen können.
Holgers Handy klingelte. Er nahm
ab und Herforth meldete sich.
„Gibt es etwas Neues?” Ein
plötzlicher Schub frischer Hoffnung durchfuhr ihn.
„Ich hoffe es. Wir sind uns nicht
sicher, ob wir dem eine Bedeutung beimessen sollen”, erwiderte Herforth.
„Wem? Was? Wem sollen Sie
Bedeutung beimessen?” Holger würde sich über jeden noch so kleinen Ansatzpunkt
freuen, über jede noch so kleine Unebenheit, an die man sich klammern und an
der man sich hochziehen konnte.
„Wir haben die letzten Tage von
Somniak minutiös zu rekonstruieren versucht”, erklärte Herforth. „Viele Spuren
hat er nicht hinterlassen. Umso auffälliger ist die eine Spur, die wir gefunden
haben. Er hat am Montagmittag im Kloster Dobbertin zehntausend Euro für das
Diakoniewerk gespendet. Eine Nonne dort hat ausgesagt, ihn kurz zuvor aus der
Klosterkirche kommen gesehen zu haben. Er habe sich sogar kurz mit ihr
unterhalten.”
Holger dachte kurz nach. „Klingt
ganz danach, als habe er sicher gehen wollen, dass man sich an seinen Besuch
dort erinnert”, sagte er schließlich.
„Genau das haben wir uns auch
gedacht.”
Und plötzlich traf ein
Geistesblitz Holger so unerwartet, wie der überaus konkrete Funke Meng Hong
getroffen hatte.
„Dort werde ich seine Zeichen
finden!” rief er aus. „Es ist eine Hilfestellung. Die Zeichen Gottes. Wo sonst
würde ich sie finden, wenn nicht in einer Kirche. Deshalb war er so darauf
bedacht, dass man sich an seinen Besuch erinnert. Um mich dorthin zu führen.”
Und plötzlich fiel ihm noch ein Detail auf. „Außerdem hätte die Spende
ausgereicht, um uns zu sagen, dass er dort war. Aber er hat noch mit der Nonne
gesprochen. Warum? Sie sollte bezeugen, dass er in der Klosterkirche war. Ich
bin mir sicher, dass wir dort einen Hinweis finden
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