Virus (German Edition)
Inschrift I.N.R.I.
„Iesus Nazarenus rex
iudaeorum” ,
sagte Holger einem Impuls folgend laut vor sich hin. „Jesus von Nazareth, König
der Juden.”
Und indem er die Worte aus dem
Lateinischen übersetzte, machte es irgendwo in seinem Kopf ‚klick’. Sein Blick
wurde leer, als seine Gedanken zu rotieren begannen. Es war, als habe sein
tiefstes Inneres bereits begriffen, sein Bewusstsein aber noch nicht. Die
Lösung war da, irgendwo in seinem Kopf. Er musste sie nur finden, fassen,
hervorholen. Sein Herz beschleunigte, als strenge ihn die Kopfarbeit körperlich
an. Und dann drang die Lösung ebenso plötzlich wie machtvoll in sein
Bewusstsein.
„Ich hab’s!” platzte es unvermittelt
aus ihm heraus. Nur Sekunden später stand Debbie neben ihm, gespannte Erwartung
in ihrem Blick.
119.
„Herr, gib mir die Kraft!” schrie
Jo Somniak in schlimmster Agonie. Er wusste nicht, was der Mann ihm in die
Augen geträufelt hatte, doch er fühlte das Höllenfeuer, das die Flüssigkeit
entfachte. Die Schmerzen waren kaum noch zu ertragen, doch sie alleine würden
ihn nicht zum Reden bringen. Die Drogen, die der Russe ihm eingeflößt hatte,
machten ihm mehr Sorgen. Er brauchte Gottes Kraft, um trotz ihrer schrecklichen
Wirkung schweigen zu können.
Wieso wirkten sie überhaupt auf
ihn? Sie waren für Menschen gemacht und nicht für Engel. Galten für Engel auf
Erden andere Regeln? Er wusste es nicht, doch dafür wusste er etwas anderes mit
umso größerer Sicherheit: Sterben konnten Engel auf Erden nicht. Sie konnten
Schmerzen empfinden, sie konnten leiden, doch sterben konnten sie nicht. Einzig
der Herr konnte ihnen das Leben nehmen, doch wieso sollte Er das tun, wenn Er
ihm genauso gut die Kraft geben konnte, zu schweigen.
War es möglich, dass er Gott mit
dem Desaster bei der Pressekonferenz erzürnt hatte? Nein, der Herr war gerecht
und das Scheitern der Pressekonferenz nicht Somniaks Schuld. Zudem funktionierte
der Rest Seines Plans reibungslos. Auch ohne die öffentliche Kundgebung würden
die Menschen irgendwann dahinter kommen, dass sich hinter den Morden eine
Warnung des Allmächtigen versteckte.
„Herr, gib mir die Kraft!”
brüllte Somniak erneut, als der Russe ihm eine Stecknadel unter seinen linken
Daumennagel schob.
„Wer dein Komplize ist, will ich
wissen”, herrschte der Folterknecht ihn mit kantigem Akzent an.
„Gott ist mein Komplize, er hat
mich gesandt”, brüllte Somniak. Tränen schossen ihm in die Augen, als die
nächste Stecknadel sich unter den Nagel seines linken Zeigefingers schob. Er
ahnte, dass dies erst der Anfang sei, doch für den Herrn zu leiden – ebenso wie
Jesus es einst für die Menschheit getan hatte – erfüllte ihn mit Stolz.
120.
„Das Zeichen? Du hast sein
Zeichen gefunden? Wo ist es?” fragte Debbie mit Aufregung in der Stimme.
„Nicht hier”, erwiderte Holger
trocken. Tausend Gedanken schossen ihm gleichzeitig durch den Kopf und nahmen
ihm die Fähigkeit, komplette Sätze zu konstruieren.
Ernüchterung ersetzte die
Aufregung in Debbies Gesicht. „Aber du weißt, wo es ist?”
„Ja.” Holger hatte nicht die
Absicht, Spielchen mit Debbie zu spielen, doch er musste seine Gedanken ordnen,
bevor er sich ihr erklären konnte. Zumal er noch weit davon entfernt war, zu
wissen, wer der Mörder war.
„Warum hat Somniak uns dann
hierher gelotst?” fragte Debbie und plötzlich mischte sich Angst in ihren
Ausdruck. „Ist es doch eine Falle?”
„Nein, keine Falle.” Debbies
Frage nach dem Warum half Holger, einen Einstieg zu finden. „Er hat uns hierher
gelockt, um uns einen Hinweis darauf zu geben, was sein Zeichen ist. Oder
vielmehr, was die Zeichen Gottes sind. Er hat uns hierher gelockt, damit wir
eine lateinische Inschrift entdecken.“
„Was?“
„Evangelische Kirchen sind
schlicht. Wir haben normalerweise keinen Jesus am Kreuz und demnach auch kein
I.N.R.I. Genau das aber ist sein Hinweis. Die Zeichen Gottes sind nichts weiter
als die lateinische Sprache.”
„Was?” Debbies Wortschatz schien
arg reduziert. Ungläubigkeit lag in ihrer Stimme und Resignation zeigte sich
auf ihrem Gesicht.
„Laut Ferdinand de Saussure,
einem der prägendsten Semiotiker des späten neunzehnten und frühen zwanzigsten
Jahrhunderts, besteht Sprache aus Zeichen”, fuhr Holger fort. „Und was ist seit
dem Mittelalter die Sprache der Kirche?”
„Latein”, hauchte Debbie.
Erkenntnis dämmerte in ihren Augen.
„Exakt. Und dementsprechend
besteht die
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