Virus (German Edition)
waren aus unbearbeitetem Holz
gefertigt und passten gut zum rustikalen Stil der Kneipe.
Komplettiert wurde der Gesamteindruck
vom omnipräsenten Geruch nach fischigem Frittierfett. Es mochte ein wenig
billig riechen und was Hagen aus der Fritteuse herausholte, eignete sich
totsicher nicht zu Diätzwecken, doch seine Variationen von frittiertem Fisch
waren schlichtweg köstlich.
Holger hatte nie verstehen
können, warum die Kneipe in letzter Zeit so schlecht besucht war, aber im
Prinzip war ihm der Grund auch egal. Er war einfach froh, dass es sich so
verhielt, denn so gab es wenigstens noch einen Ort außerhalb seiner eigenen
vier Wände, an dem er sich aufhalten und Bier trinken konnte, ohne unter
Menschen zu sein.
Hagen hatte Holger nur sein Bier
hingestellt und sich dann wieder auf den Fernseher in einer Ecke des Raums
konzentriert. Es lief ein Bericht über Ausschreitungen von Globalisierungsgegnern
beim G8-Gipfel. Holger hingegen weigerte sich, seinen Stuhl zum Fernseher zu
drehen. Er starrte gedankenverloren Hagen an. Irgendetwas stimmte nicht mit ihm
und so wenig Holger sich auch für andere Menschen interessierte, wurde er in
diesem speziellen Fall das Gefühl nicht los, Hagens seltsames Verhalten könnte
in irgendeiner Weise sogar ihn betreffen.
Hagen Petzold war Anfang sechzig
und hatte außer dieser Kneipe nichts im Leben. Aber auch als es noch etwas
außer dem ‚Dorfkrug’ gegeben hatte, war dieser stets sein Lebensmittelpunkt
gewesen. Aus eben diesem Grund hatte seine Frau ihn damals auch verlassen, und
seitdem gab es wirklich nur noch die Kneipe für ihn.
Hagen war spindeldürr und hatte
langes, fast vollständig ergrautes Haar bis in den Rücken, das er sich meist zu
einem Pferdeschwanz band. Nur noch stellenweise konnte man das Dunkelblond
erahnen, dass einmal seine Haarfarbe gewesen sein musste. Dazu trug er eine
Brille mit schmalem Rahmen und kreisrunden Gläsern. Holger hatte manchmal die
Vermutung, Hagen sei vielleicht selbst sein bester Kunde. Er hatte schon von
vielen Alkoholikern gehört, die dünn waren. Häufig ersetzte Bier ihnen komplett
die Nahrung, zudem kurbelte der Alkohol den Stoffwechsel an.
Wenn man Hagen Petzold als Hippie
bezeichnete, konnte man kaum falsch liegen. Obwohl seine Vorliebe für
freundlich-helle, gebatikte T-Shirts etwas zu klischeehaft wirkte, wusste
Holger doch, dass Hagen in den Studentenbewegungen der 60er Jahre in der Tat
aktiv gewesen war. Er war ein lässiger Typ, cool, unbekümmert. Ey, Peace,
mann.
Fröhlich hingegen war Hagen
Petzold selten. Seine ernsten, von Sorgenfalten zerfurchten Gesichtszüge
zeigten, dass seine Kleidung und sein Äußeres nicht sein Seelenwohl
widerspiegelten. Er sprach stets mit sanfter, freundlicher Stimme, aber er
sprach nur selten. Er lächelte stets freundlich zur Begrüßung, wenn jemand die
Kneipe betrat, doch er lächelte nicht mit seinen Augen.
Hagen musste Sorgen haben, soviel
war sicher, und wenn man sah, wie wenig Umsatz er machte, konnte man sich deren
Ursprung leicht vorstellen. Holger wusste, dass der ‚Dorfkrug‘ in finanziellen
Schwierigkeiten steckte und dass Hagen Druck von seiner Bank bekam. Die Kneipe
hatte Jahrzehnte lang seinen Lebensmittelpunkt dargestellt, seine Ehe zerstört
und würde ihn nun in den Abgrund ziehen.
Gerade deshalb, weil es eben so
gar nicht zu ihm passte, besorgte Hagens seltsame, fast heitere Stimmung Holger
– speziell angesichts der erschreckenden Nachrichten, die er im Fernsehen
verfolgte. Etwas Gutes konnte das kaum bedeuten, zumindest nicht für ihn. Es
gab zwei Möglichkeiten: Entweder hatte Hagen den ‚Dorfkrug‘ verkauft und genoss
zum ersten Mal seit Urzeiten ein Gefühl von Freiheit, oder er hatte einen
Rettungsplan ausgearbeitet, der natürlich nur beinhalten konnte, dass mehr
Kunden kommen würden. So oder so würde Holger seinen Zufluchtsort verlieren.
Eine klassische lose-lose Situation.
Schließlich hielt er es nicht
länger aus.
„Du wirkst verändert, Hagen.
Wieso?” Er hatte sich seit zwei Jahren nicht für das Befinden eines anderen Menschen
interessiert und er tat es auch jetzt nicht. Einzig dieses seltsame Gefühl,
Hagens Verhalten könnte auch ihn betreffen, trieb ihn zu seiner Frage.
„Nichts. Alles bestens.“
„Eben das motiviert mein Fragen.“
„Wieso?“
„Es muss dir schlecht gehen.“
Durch Holgers gleichgültiges Leiern litt die Betonung und es war nicht klar zu
erkennen, dass er mit dem Verb ‚muss‘ einen logischen Schluss meinte,
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