Virus (German Edition)
war gefüllt von Flüchen, Befehlen, Menschen,
Bewegungen, Schweißgeruch, Anspannung, Schmerzen und Angst – doch von all dem
nahm sie nichts wahr. Mit leerem Blick starrte sie vor sich hin.
Erneut spielte sich vor ihrem
inneren Auge die schreckliche Szene des Nachmittags ab. Der im Blitz gefangene,
fürchterlich zitternde Professor, der brennende Schriftzug hinter ihm, der
schreckliche Ton über allem.
Die Polizei wollte ihr nicht
helfen, sie selbst hatte keine Spur. Und auch keine Hoffnung. Eine traurige
Gewissheit machte sich in ihr breit: Der Mörder des Professors würde nicht für
seine Tat zur Rechenschaft gezogen werden.
9.
Die frische Luft und der Regen im
Gesicht fühlten sich gut an. Holger war froh, der Stickigkeit des
Kongresszentrums, dem nervenaufreibenden Chaos darin und besonders natürlich
der hysterischen, wild hypothetisierenden Amerikanerin entkommen zu sein. Waren
eigentlich alle Amerikaner Verschwörungstheoretiker? Er wusste es nicht und es
war ihm auch egal.
Er verließ den eingezäunten
Sicherheitsbereich durch die schwer bewachte Durchfahrt. In Momenten wie diesen
hätte der Zaun fast nerven können. Immerhin regnete es und die
Ausgangskontrolle wirkte überflüssig und überzogen gründlich wie immer. Schließlich
wollte er raus und nicht rein. Noch mehr hätten die Eingangskontrollen nerven
können, denn sie waren stets zeitaufwändig und mit einer gründlichen
Leibesvisitation verbunden. Das alles hätte nerven können. Wenn es Holger nicht
schlichtweg egal gewesen wäre.
War er zynisch? Vielleicht. Es
war ihm egal.
Er hatte es nicht weit. Nur ein
etwa sechshundert Meter breiter Streifen aus kleinen Wäldchen und wilden Wiesen
trennte den eingezäunten Bereich vom Dorf. Holger fragte sich, ob dies eine
schöne Gegend war. Möglich. Wahrscheinlich. Ziemlich sicher sogar, denn früher
hatte er sie als schön empfunden. Besonders um diese Jahreszeit. Die Bäume
hatten bereits vor Wochen auszuschlagen begonnen und standen in leuchtend
hellem Grün. Die Wiesen wurden bereits von vereinzelten Frühlingsblumen
geschmückt. Im Sommer glichen sie einem einzigen Blütenmeer. Hinzu kam die
Brandung, die als sanftes Rauschen bis hierher zu hören war, und eine ebenso
stilvolle wie angemessene akustische Untermalung bot. Selbst grauen und
verregneten Tagen wie heute hatte Holger etwas Positives abgewinnen können und
sich am frischen, leicht erdigen Geruch der reingewaschenen Luft erfreut.
Früher. Doch heute konnte er nicht mehr sagen, ob die Gegend schön war oder
nicht, denn es interessierte ihn schlichtweg nicht. Es war ihm egal. Wie fast
alles.
Jetzt standen die Wiesen sowieso voll
mit den Zelten der Globalisierungsgegner. Ungepflegte Kreaturen, die hier eine
Woche auszuharren planten – wahrscheinlich ohne zu duschen. Holger hasste diese
Zecken und das war ihm nicht egal. Ganz im Gegenteil bedeutete ihm dieses
Gefühl sogar eine ganze Menge. Er zog seinen Schritt an.
Hinter sich hörte er plötzlich
Schreie, Rennen, Splittern, Krachen. Irgendein Aufruhr, wahrscheinlich Autonome.
Eine plötzliche rasende Wut verbunden mit brennendem Hass kochte in Holger
hoch. Er merkte, wie er unwillkürlich die Hände in seinen Taschen zu Fäusten
ballte. Mit jedem Schritt versuchten seine Füße, der Erde unter ihm, dieser
beschissenen Welt, einen Tritt zu verpassen.
Er versuchte sich einzureden,
dass ihn diese Wahnsinnigen nicht interessierten. Autosuggestion. Sie sollten
ihm egal sein. Nicht einmal Debbies Schicksal hatte ihn interessiert, obwohl er
in ihrem Fall von Berufswegen dazu verpflichtet gewesen wäre. Warum konnte er
eine solche Gleichgültigkeit nicht auch den Globalisierungsgegnern gegenüber
entwickeln? Er wusste die Antwort und er wusste auch, dass sich daran niemals
etwas ändern würde.
Ein Tross von Mannschaftsbussen
der Polizei schoss mit mörderischer Geschwindigkeit an Holger vorbei und nur
mit Not konnte er von einer Pfütze aufspritzendem Wasser ausweichen. Laut
fluchend ging er weiter.
Als Holger den Dorfkern
erreichte, war seine Wut nahezu abgeklungen, und die Gleichgültigkeit, die seit
zwei Jahren sein Leben bestimmte, zurückgekehrt. Er überquerte den Marktplatz
mit dem schönen, bronzenen Springbrunnen aus dem 18. Jahrhundert in seiner
Mitte und steuerte direkt auf den ‚Dorfkrug’ zu.
Auf der dem ‚Dorfkrug’ gegenüberliegenden
Seite des Platzes lag die andere Kneipe des Dorfes, die ‚Kleine Taverne’.
Holger mochte sie nicht, denn sie war stets gut
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