Virus (German Edition)
und nicht
etwa ein eigenes Begehren, ein Sollen. „Dir geht es immer schlecht. Daraus, das
sollte dir bewusst sein, resultiert unsere kontralaterale Affinität. Dein Geschäft
wirft keinen Ertrag ab. Es hat dir nicht gut zu gehen. Es existiert kein Grund
für Wohlbefinden.“
„Es wird sich hier Einiges
ändern, Holger. Ich habe eine neue Zielgruppe. Bald werde ich mich vor Gästen
kaum noch retten können.“
Holger fühlte, wie ihm das Herz
in den Schoß rutschte. Seine kleine heile Welt aus von Selbstmitleid genährter
Gleichgültigkeit funktionierte nur in einer ungestörten Atmosphäre. Lose-lose. Er hatte verloren.
„Welch degenerierter Materialist
aus dir geworden ist“, leierte er, Gleichgültigkeit nur mit Mühe vortäuschend.
„Aber was kann man erwarten? Immerhin scheinst du von der Bürde eines logischen
Denkvermögens gänzlich verschont zu sein.“
Hagen schien ihm seine Worte
nicht übel zu nehmen, nicht geneigt, sich provozieren zu lassen. „Habe ich
etwas übersehen?“ fragte er gelassen.
„Ich denke, das könnte man so
sagen. Welcher Hornochse, glaubst du Hornochse denn, sehnt sich wohl nach der
Enge einer überfüllten Kneipe und der impliziten imminenten Verpflichtung
sozialer Konventionen?“
Hagen lachte heiser auf. Für eine
Sekunde klang sein Ausbruch nahezu manisch. „Die Hornochsen, die dafür gesorgt
haben, dass die Kneipe voll ist, zum Beispiel. Vergiss nicht, dass der Mensch –
mit deiner Ausnahme – ein soziales Wesen ist.“
„Menschen. Es soll dir schlecht
gehen, Hagen.“
„Willst du noch ein Bier?“
„Nein wirklich nicht. Wirklich
nicht mit der Bürde logischen Denkvermögens belastet.“
12.
Kommissar Wegmanns Büro im
Gebäude der Polizeidirektion Rostock war nicht besonders groß und weit davon
entfernt, gemütlich oder gar stilvoll zu sein. Er war zwar Chef, aber eben nur
Chef einer Abteilung in einer Behörde in Ostdeutschland und nicht Chef einer
Bank. Die Möbel waren von Ikea, der Boden aus Linoleum und an den Wänden gab es
keine Tapeten, sondern nur einige Schichten bieder beiger Farbe auf dem blanken
Putz. Eine Wand war immerhin mit einem großen weißen Blech versehen, das sowohl
als Tafel als auch als Magnetwand diente. Hier konnte Wegmann Material für
seine Fälle sammeln, Querverbindungen herstellen, Übersichtlichkeit schaffen,
Rätsel lösen.
Er hatte die Magnetwand in den
sieben Jahren, die er jetzt dieses Büro okkupierte, nicht einmal zu dem Zweck benutzt,
der ihr eigentlich zugedacht war.
Dies war nicht seine Art, seinem
Beruf nachzugehen. Es gab für ihn nichts aufzuklären, weil es in seinem Bezirk keine
Morde gab. Offiziell nicht. Wegmann war einfach gut darin, dafür zu sorgen,
dass Morde nicht als solche erfasst wurden. Auf diese Weise war nicht nur die
Arbeitslast erträglich, sondern auch die Kriminalstatistik in seinem Bezirk
exzellent, was ihm regelmäßig Lob für seine gute Präventivarbeit einbrachte.
Auf seinem großen
Ikea-Schreibtisch stapelten sich stets Aktenberge und verliehen dem Raum ein
Flair von Stress und Geschäftigkeit. Wer genauer hinguckte, fand schnell
heraus, dass die Akten zum Teil Jahre alt waren und keine aktuellen Fälle
dokumentierten. Wegmann hatte eine gewisse Perfektion darin entwickelt, sowohl
sein Büro als auch seinen Habitus stets in gestresster Geschäftigkeit zu
präsentieren.
Selbige Camouflage diente zum
Teil dem Selbstschutz, denn wenn mal ein Vorgesetzter aus Schwerin
vorbeischaute, sah dieser zu jeder Zeit einen in Arbeit versinkenden Kommissar
und kam nie auf die Idee, ihn zur Unterstützung unterbesetzter Dienststellen
abzukommandieren. Zum anderen Teil diente die Camouflage des Gestressten der
Befriedigung seiner Eitelkeit. Wegmann war ein Mann, der sehr auf seine Außenwirkung
achtete, und in seiner Vorstellung hinterließ ein vielbeschäftigter Mann einen
professionelleren, fleißigeren und insgesamt einfach tieferen Eindruck als ein unterbeschäftigter.
Zur Unterstützung dieses
Anscheins hatte er auch die Magnetwand zweckentfremdet. Etliche Fotos oder
Zeitungsartikel hafteten an ihr, waren mit handschriftlichen Notizen versehen,
durch geschwungene Klammern zusammengefasst und durch Linien und Pfeile
miteinander verbunden. Regelmäßig änderte Wegmann die Anordnung oder tauschte Bilder
aus. Er betrachtete die Perfektion, die er in dieser Illusion der
Geschäftigkeit entwickelt hatte, nicht ohne einen gewissen Stolz.
Wegmann saß hinter seinem
Schreibtisch und hatte die Füße
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