Virus (German Edition)
nicht recht, was sie sagen sollte. Einerseits wollte sie ihn
fragen, wie er so geworden war, was ihn diesen Schutzwall hatte aufbauen
lassen. Andererseits wollte sie mit ihm über Sams Tod sprechen.
„Hast du Hunger?”
fragte sie stattdessen. Besser als nichts. Immerhin war das Schweigen
gebrochen. Außerdem hatte sie einen Bärenhunger. Nachdem sie zum Frühstück kaum
einen Bissen heruntergebracht hatte, fühlte sie schmerzhaft die gähnende Leere
in ihrem Magen.
„Zufällig hungert es
mich in der Tat. Mein Frühstück ist dem Ausschlafen zum Opfer gefallen”,
antwortete Holger. Sie wechselten die Richtung und gingen nun quer durch die
Dünen in Richtung der Straße, die aus dem eingezäunten Bereich heraus und in
den Dorfkern führte. Der Wind hatte ein wenig aufgefrischt und bog das
Dünengras in gleichmäßigen Wellen, fast wie ein grünes Meer. Der Himmel
hingegen klarte mehr und mehr auf und immer häufiger zeigte sich die Sonne.
„Es hat eine weitere
Tote gegeben”, sagte Debbie.
Holger blickte sie
erstaunt an. „Lass mich raten”, leierte er. „Du glaubst, es handele sich um
Mord.”
„Ja.”
„Das ist ja
nachgerade eine kleine Serie.”
„Ich glaube, dass es
eine werden soll”, sagte Debbie. Ihre Stimme klang besorgt. Erneut blickte
Holger sie an.
„Und was erlaubt dir
diese Vermutung?” fragte er. Seine Stimme klang fast ein wenig normal dabei. Es
war das geringste Leiern, das Debbie bislang von ihm gehört hatte, und sie
empfand es als Zeichen, dass er sie ernst nahm. Immerhin.
Und dann erzählte sie
ihm alles, was sie wusste und was an diesem Morgen passiert war. Sie berichtete
von ihrem Frühstück mit Marcel Trébor, von ihren Zweifeln, dass jemand
freiwillig im Mai um sechs Uhr morgens in der Ostsee schwimmen gehe, von dem
Foto in der Zeitung, von ihrem Disput mit Wegmann und davon, dass Sam auf dem
gleichen Gebiet geforscht habe wie Meng Hong. Als sie endete, trat ein erneutes
Schweigen ein, doch diesmal kein unangenehmes, das zu durchbrechen schwer
werden würde. Vielmehr schien Holger in Gedanken zu ordnen, was er soeben im
Schnelldurchlauf erfahren hatte, und Debbie wollte ihn nicht dabei stören.
„Wir haben also zwei
Todesfälle in zwei Tagen”, rekapitulierte er schließlich. „Beide Opfer
verbindet nicht nur ihr Beruf, sondern sogar ihre Spezialisierung. Bei beiden
Fällen treten Ungereimtheiten auf, die darauf schließen lassen, dass es sich
nicht um einfache Unfälle handelt. Mindestens der erste Mord, wenn wir davon
ausgehen, dass es einer war, scheint inszeniert gewesen zu sein. Als solle er
eine Botschaft aussenden. Möglicherweise der zweite auch, was wir aber aufgrund
mangelnder Detailkenntnis zu diesem Zeitpunkt noch nicht sagen können. Und wir
befinden uns auf dem wahrscheinlich medienwirksamsten jährlichen Ereignis
dieses Planeten.”
Er machte eine
bedeutungsschwangere Pause.
„In der Tat”, fuhr er
schließlich fort. „Ich denke, es deutet Vieles darauf hin, dass wir es mit
einem Serienkiller zu tun haben.”
Debbie blickte Holger
an und beglückwünschte sich im Stillen zu ihrer Entscheidung, ihm nachgelaufen
zu sein. Er schien über einen analytischen Verstand zu verfügen – sicher kein
Nachteil –, aber was ihr noch viel mehr bedeutete, war, dass er sie ernst nahm.
Sie erreichten den
Zaun und durchliefen die übliche Pass-Kontrolle. Beim Verlassen des
eingezäunten Bereichs wurden keine Leibesvisitationen durchgeführt. Lediglich
die Pässe wurden mit leicht nervenaufreibender Sorgfalt geprüft und mit den
Listen der zugelassenen Personen abgeglichen. Auf diese Weise konnte man
Unbefugte, wenn sie denn auf irgendeine Weise hineingelangt waren, unter
Umständen beim Verlassen der Sicherheitszone erwischen. Der Ausgang wurde ihnen
gnädig gewährt und sie gingen die Straße weiter in Richtung des Dorfkerns.
An einer
Parallelstraße, die etwa hundert Meter entfernt normalerweise ebenfalls zum
Hotel führte, nun aber für den Gipfel gesperrt war, weil man keine zweite
Zaundurchfahrt hatte einrichten und kontrollieren wollen, sahen sie ein großes
Aufgebot an Mannschaftsbussen der Polizei. Schon wieder Randale? Viel war nicht
zu erkennen.
„Glaubst du, der
Mörder könnte ein Globalisierungsgegner sein?” fragte Debbie.
„Gut möglich”,
erwiderte Holger. „Sie bilden immerhin eine Personengruppe, die Aufmerksamkeit
erzeugen will. Die Medien bereiten ihnen hier eine große Bühne, um ihre Botschaft
um die Welt zu tragen, und Morde sind
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